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Nadine Deringer

Nadine Deringer

2000
Maryam Joseph

Ein Interview mit der Pflegefachfrau Nadine Deringer (Januar 2024)

Als ich meinen Weg in den Pflegeberuf fand, war das kein lang gehegter Kindheitstraum, ich wollte etwas Kreatives machen. Der Schritt in den Pflegeberuf geschah eher zufällig während meiner Schulzeit in der zweiten Sekundarstufe, als eine Pflegefachfrau den Beruf in unserer Schule vorstellte. Von diesem Moment an war für mich klar: "Ich lerne diesen Beruf." Das soziale Miteinander und die Möglichkeit, mit Menschen zu arbeiten, haben mich schon immer fasziniert, Ich war immer ein soziales Wesen, auch früher kamen Freundinnen oft mit ihren Sorgen zu mir. Es gefiel mir, dem Gegenüber etwas Gutes zu tun.

Während meiner Ausbildung zur Pflegefachfrau erlebte ich eine Zeit, die ich als äußerst wertvoll empfand, mit motivierten Lehrerinnen und Lehrern. Inspirierende Lehrkräfte und eine unterstützende Lernumgebung prägten diese Jahre. Ich hatte das Gefühl, dass ich diesen Beruf mein ganzes Leben lang ausüben würde, bis zur Pensionierung. Doch im dritten von insgesamt vier Lehrjahren, im Jahr 2000, erlebten wir einen Streik, der uns auf die Missstände aufmerksam machte. Es ging um mehr Zeit und bessere Arbeitsbedingungen für uns Pflegende. In den Nullerjahren merkte ich, wie wir immer weniger Zeit für die zu Pflegenden hatten. Die nötige Qualität der Pflege war dadurch zunehmend weniger gewährleistet und somit auch, dass die Patienten und Patientinnen gesund nach Hause könnten – und damit ja auch Kosten gespart werden könnten, durch weniger Komplikationen und weniger Wiedereintritte ins Spital.

Nach meiner Ausbildung trat ich voller Enthusiasmus in das Berufsleben ein. Meine erste Stelle war großartig - meine Vorgesetzten kümmerten sich um uns und ich hatte die Möglichkeit, unbezahlten Urlaub zu nehmen, um Auslandseinsätze zu machen. Nach dem Einstieg in meinen Beruf konnte ich nämlich mehrmals länger Reisen unternehmen, ermöglicht durch Phasen mit unbezahltem Urlaub. In diesen frühen Jahren erlebte ich eine gewisse Sicherheit und eine Wertschätzung für meine Arbeit. Es wurde auf das Wohl der Patienten und das Wohlbefinden des Personals geachtet. Tiefpunkte waren in dieser Phase vor allem das Sterben von jungen Menschen während meiner Nachtwachen, dies hinterließ tiefe Spuren.

Vor der Einführung des DRG (System der Vergütung via Fallpauschale) wurde der Wechsel jedoch spürbar: die Leitungen der Pflegedienste wurden mit neuen Leuten besetzt, die Finanzen erhielten oberste Priorität. Die Priorität für das Personal sank und zunehmend erlebte man gefährliche Situationen, die Sicherheit der Patienten und Patientinnen war immer weniger gewährleistet. Je näher das System der Fallpauschale (DRG) kam, um so mehr merkte man die negativen Veränderungen. Für regelmässige Kontrollen in der Nacht beispielsweise fehlte immer mehr die Zeit. Manchmal hastete ich von Alarmruf zu Alarmruf, ohne Zeit zu haben, in die anderen Zimmer zu schauen, wo vielleicht jemand verblutete, der den Alarm nicht betätigen konnte. Ich träumte auch von Leuten, die während dem Nachtdienst verbluteten, weil mir die Zeit fehlte. Die Situationen von Patienten wurde zunehmend komplexer und wir hatten zu wenig Zeit, uns um sie zu kümmern und dieser Komplexität gerecht zu werden. Erschwerend hinzu kam, dass mit der Einführung der Fallpauschale mehr Pflegefachpersonen die Kündigung einreichten und durch Personen aus dem Ausland ersetzt werden mussten, die nicht die gleiche Ausbildung mitbrachten und keine Erfahrung mit Notfallsituationen hatten. Dadurch lastete noch mehr Verantwortung auf jenen, die Erfahrung und die nötige Ausbildung hatten. Diese Konstellation haben wir heute auch mit dem neuen Beruf der FaGe, mit dem man primär Kosten sparen wollte. Diplomierte Personen werden durch FaGe’s ersetzt. Statt wie früher für vier bis sechs Patienten verantwortlich zu sein, bin ich es als Fachperson heute für zehn!

Im Laufe der Zeit wandelten sich die Bedingungen drastisch. Tiefpunkte nah men zu, vor allem wegen den veränderten Arbeitsbedingungen, wie oben schon angetönt. Die Prioritäten verschoben sich von den Menschen hin zu den Finanzen. Immer mehr wurden die Pflegenden unter Druck gesetzt und es wurde schwieriger, die hohe Qualität der Pflege aufrechtzuerhalten. Es gab Zeiten, in denen ich Angst hatte, dass ich nicht genug Zeit hatte, um mich um meine Patienten zu kümmern, besonders wenn ihre Situationen komplexer wurden.

Meine Arbeitserfahrung half mir glücklicherweise, dass ich mich zunehmend sicher fühlte mit meinen Erfahrungen und meinen Kenntnissen. Durch meine Teilzeitpensen konnte ich mich zudem besser abgrenzen, als Vollzeitangestellte wäre ich wohl früh ausgebrannt gewesen. Zudem hattte ich durch meine Teilzeit etwas Zeit für mein berufspolitisches Engagement.

Trotz meiner zunehmenden Erfahrung und Sicherheit spürte ich den steigenden Stress und die Überlastung des Personals. Der Mangel an qualifiziertem Personal führte zu einer Unterversorgung der Patienten und einer stetigen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, so wurden beispielsweise zunehmend kurzfristig Dienstpläne verändert, man musste immer abrufbar sein. Von Leitungspersonen wurden die generellen Rahmenbedingungen vernachlässigt und stattdessen der Druck auf die Pflegenden verstärkt: diese sollten sich immer noch mehr optimieren. Das macht mich wütend. Ebenso die fehlenden positiven Rückmeldungen und umgekehrt die, was man alles nicht gut mache. Das hat sich gegenüber früher extrem verändert. Mich stört auch die Darstellung in der Presse, dass die Krankenkassenprämien steigen würde wegen den höheren Löhnen der Pflegefachleute – was eben gerade nicht stimmt. In den Medien werden auch die Leistungen der Pflegenden unterbewertet und ihr Wert und ihre Verantwortung nicht gewürdigt.

Für die Entwicklung der Pflegearbeit ist leider das Wort «Scheisse» angebracht: Ich sehe mit Sorge in die Zukunft des Pflegeberufs. Bereits 2011 haben wir die negative Entwicklung gesehen und es wird immer drastischer. Die Politik nimmt die Probleme nicht wahr. Immer mehr Pflegende steigen aus, nehmen die Misere nicht mehr auf sich. Das stimmt mich traurig, auch weil es letztlich alle angeht und betrifft.

Die steigende Anzahl älterer und kranker Menschen wird die Situation weiter verschärfen, und ich befürchte, dass sich die Zustände noch weiter verschlechtern werden. Trotz der Herausforderungen bleibe ich entschlossen, für Veränderungen einzutreten und die Würde und Qualität der Pflegeberufe zu verteidigen.

Mein persönlicher Einsatz und mein politisches Engagement sind Ausdruck meiner Überzeugung, dass die Probleme im Pflegebereich ernst genommen und gelöst werden müssen. Seit Jahren setze ich mich aktiv im VPOD ein, nehme an Demonstrationen teil und bringe meine Stimme in die öffentliche Debatte ein. Während des Lockdowns habe ich Zeitungen und Berufsverbände angeschrieben, um auf die prekäre Lage im Pflegebereich aufmerksam zu machen. Dies wurde in den Medien kaum aufgegriffen.

Glücklicherweise können wir auf städtischer Ebene mehr bewirken, auch durch die politischen Kräfteverhältnisse in Zürich und die Spitäler in städtischer Obhut. Wir müssen verhindern, dass das Gesundheitssystem noch mehr krankgespart wird, auf dem Buckel der Patienten und Patientinnen, zu Lasten der Gesundheit und zu Lasten des Personals. Qualifiziertes Personal in genügender Anzahl rettet Leben und spart letztlich Gesundheitskosten - das hat gerade auch wieder eine Studie gezeigt. Es muss auch verhindert werden, dass - wie heute - 46 Prozent der Pflegenden wieder aus dem Beruf aussteigen! Lohnverbesserungen, famlilienfreundliche Dienstpläne, ein besserer Stellenschlüssel und mehr Ausbildung sind dringend nötig.

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Maryam Joseph
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20 März 2024
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