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Das organisierte Chaos - die Luzerner Fasnacht und ihre Guuggenmusigen

Daniel Galliker

Statistisch gesehen ist die Chance sehr gross, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, noch nie an der Luzerner Fasnacht waren oder noch nie eine Luzerner Guuggenmusig gesehen und gehört haben. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass Sie sich ein Bild einer Guuggenmusig im Kopf machen können. Vielleicht sehen Sie aufwändig geschminkte, angetrunkene, junge Menschen, die verkleidet in Gruppen an einem Dorf- oder Regionalanlass herumstehen und alle auch ohne Kostüme irgendwie zusammenpassen scheinen.

Heute hat wohl fast jede Ortschaft in der Schweiz mindestens eine Guuggenmusig. Ja es gibt sie sogar in der Westschweiz, in Deutschland, Holland, England und wohl auch überall, wo es Schweizer gibt. Der Siegeszug eines Kulturexportschlagers auf den die Luzerner Fasnächtler stolz sind. Wenn es auch unsere Fasnacht im Gegensatz zu der von Basel bisher nicht in den Kataster der UNESCO geschafft hat. Als ob das nicht genug wäre, ist es leider auch historisch belegte und unumstrittene Tatsache, dass die Erfindung der Guuggenmusigen nicht in Luzern, sondern wohl ebenfalls in Basel stattfand. Immerhin hat sich aber dieser Brauch nach dem 2. Weltkrieg von Luzern aus rasant ausgebreitet.

Was wir denn heute so landläufig als Guuggenmusig verstehen, hat mit den damaligen Frühformen nicht mehr viel gemeinsam. Die ersten Guuggen bestanden denn auch aus lauter verschiedenen, möglichst verbeulter und alter Instrumente. Die Musik war dann auch sehr kakophonisch und die Sujets (Kostüme mit Masken) sehr heterogen, unorganisiert und den einzelnen Mitgliedern überlassen.

In den 50er Jahren entstanden dann oft unter der Führung charismatischer Künstler:innen eine Urform, die die Grundzüge der heutigen Musigen aufweisen. Also ein gemeinsames Motto, erkennbare und typische Fasnachts-Musikstücke und vereinsähnliche Strukturen. Die damaligen Guuggenmusigen waren stark auf eine eigene Identität bedacht. Von Weitem erkannte man optisch aber auch anhand der gespielten Stücke, wer da auf einen zukommt. Ab Mitte der 50-Jahre setzte ein eigentlicher Boom ein. Fast in jedem Quartier in der Stadt und in der Umgebung wurden Guuggenmusigen gegründet. Sie alle zeichneten sich dadurch aus, dass sie um einen Kern Gleichgesinnter entstanden, die einem Milieu zuzuordnen waren wie zum Beispiel Kantischüler:innen oder Künstler:innen. Das führte dann auch häufig dazu, dass leider viele dieser Vereine nur eine Generation bestehen blieben und Nachfolgende es oft schwer hatten das Erbe unter den Argusaugen der Urmitglieder in ihrem Sinne weiterzuführen. Diese Auflösungen alter Musigen ergaben aber auch immer wieder Chancen für Neues und trugen dazu bei, dass sich der Guugger-Virus immer weiterverbreitete.

In den Achtzigerjahren konsolidierte sich die Szene weiter und es etablierten sich Grundtypen heraus. Das wären die Traditionsmusigen, die bis heute ihrem Stil weitgehend treu bleiben. Beispielsweise im Auftreten als „Wand“, also mehrheitlich uniform kostümierter, oft auch in sauberer Viererkolonne marschierender Formationen. Diese entfalten zweifellos eine mächtige und eindrückliche Wirkung auf die Zuschauenden in den Gassen. Unter ihnen gibt es bis zum heutigen Tag reine Männervereine. Als Gegenentwurf entstanden wildere Haufen oder sogar Musigen, die teilweise nicht einmal mehr mit realen Instrumenten an die Fasnacht gehen, sondern Theater spielen oder eine Unterhaltungs-Show aufziehen. Der Mainstream liegt heute irgendwo dazwischen. Sie alle aber folgen dem einen ungeschrieben und heiligen Luzerner Fasnachtsgesetz: Auf der Strasse tragen alle man beim Marschieren einen „Grind“ (Maske) und vollgeschminkte Gesichter sind unter Guuggenden verpönt.

Die Massen der sich vermehrenden Guuggenmusigen in Luzern hat bis heute einen prägenden Einfluss auf die Fasnacht in Luzern. Diese verlegte sich immer stärker auf die Strasse und kann heute mit Fug und Recht als Strassenfasnacht bezeichnet werden. Der Platz in den Beizen wurde enger, das Leben findet draussen statt. Viele Vereine und Musigen finanzieren einen Teil ihres Budgets auch mit eigener Restauration in Form von Kaffeewagen, an denen auch eine Vielzahl anderer Getränke an die Fasnächtler:innen verkauft werden. Natürlich zum Leidwesen der Gastroszene, deren Etablissements vermehrt als Ruheraum, zu WC-Besuchen oder zum Aufwärmen genutzt werden und immer seltener für ausreichende Konsumation und Beizenfasnachtstreiben. Heute schliessen sogar viele Restaurants über die Fasnachtstage oder sie betreiben einen Grill und Getränkestand am Strassenrand.

Das sich verknappende Angebot in den Beizen förderte einen Gegenentwurf zu den klassischen Guuggenmusigen: die Kleinformationen, die Anfang der 90er-Jahren ebenfalls wie Pilze aus dem Boden schossen. Sie waren flexibler und spielten ein differenzierteres Repertoire, das gute Musiker:innen auch mehr Raum zur Entfaltung bot. Sie klangen auch weniger kakophonisch und dieser Effekt wurde vom Publikum gut aufgenommen. Heute gehören sie als fester Bestandteil zur Luzerner Fasnacht. Viele von Ihnen haben ein eigentliches Stammpublikum und sind sehr bekannt.

Eine musikalische Professionalisierung war dann auch in der Guuggerszene bald bemerkbar. Viele Guugger:innen spielen heute auf wertvollen Instrumenten, bei denen viele gute Profi- und Amateurmusiker:innen feuchte Augen bekommen. Für einmal machte sich der Einfluss aus den Innerschweizer Nachbarskantonen bemerkbar. Vor dort her kamen junge Formationen in die Stadt die mit akribisch einstudierten, effektvollen Arrangements und einem unbändigen, jugendlichen Power für Furore sorgten und die alteingesessenen Musigen buchstäblich vom Platz fegten. Nachahmer liessen dann auch nicht lange auf sich warten. Das kakophonische Moment geriet bei vielen Formationen zunehmend in den Hintergrund. Ein grosser Teil der Musigen lassen seither ihre Stücke von Profis arrangieren. Heute übertreffen sich viele Formationen in ausgeklügelter Polyphonie gegenseitig und es entsteht ironischerweise dadurch wieder ein neues kakophonisches Moment, indem die Grundmelodie für die Zuhörenden oft nur noch schwer auszumachen ist, da alle Stimmen gleich laut gespielt werden.

Von einigen traditionellen Formation abgesehen, passen sich die Vereine dem heutigen allgemeinen Musikgeschmack an. Das war natürlich immer schon so. Früher spielten wir „Rivers of Babylon“ und heute steht Bruno Mars auf dem Spielplan. Unter Musikproduzent:innen gilt auch die Regel, dass man in der Schweiz erst dann einen richtigen Hit geschrieben hat, wenn ihn die Guuggenmusigen spielen.

Von unverbesserlichen Zünften und einer Handvoll Männermusigen abgesehen, wurde die Guugger-Szene von Anfang an durch Frauen mitgeprägt. Sei es als bildende Künstlerinnen für Masken und Kostüme, Musikerinnen an allen Instrumenten oder als musikalische Leiterinnen. Als wir vor über 40 Jahren eine Schülerguuggenmusig gründeten, war es überhaupt keine Sensation, dass wir eine Tambourmajorin wählten, die den Tarif und den Takt für uns durchgab.

In den über 75 Jahren Luzerner Guuggenmusigen sind viele Vereine erschienen und wieder verschwunden. Immer wieder entstehen neue Strömungen und Gegenströmungen, die die Szene prägen. Heute gehören über 80 Guuggenmusigen aus der Region Luzern dem offiziellen Dachverband „Vereinigte“ (Guuggenmusigen) an. Mit den unabhängigen Formationen werden es weit über hundert sein, die in der kleinen Stadt Luzern an den offiziellen Fasnachtstagen und darüber hinaus das fasnächtliche Treiben beeinflussen. Und immer trägt jede dieser Formationen zur Vielfalt und dem mehr oder weniger organisierten Chaos bei, das die Luzerner Fasnacht eben ausmacht. Den allermeisten Guugger:innen wird es daher auch egal sein, ob sie nun unter dem Schutz der UNSECO guuggen. Hauptsache das Wetter spielt mit. Und wenn nicht, ist es auch egal.

Daniel Galliker, seit 1981 Mitglied verschiedenster Luzerner Guuggen- und Fasnachtsmusigen.

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20 Januar 2023
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