Aus dem Leben der Verena Huter-Sidler 5. Diemberg SG
Diemberg SG / Restaurant Sternen
ca. 1934-1935
Diemberg war ein Weiler, mit damals gut zwanzig Häusern und einer tristen Fabrik. Ich glaube, es war eine Weberei. Diemberg liegt hart an der Grenze zu Laupen-Wald / Zürich. Das Restaurant hiess Sternen. Dazu gehörte eine noch kleinere Landwirtschaft, als dies in Tann der Fall gewesen war. Es war eine Kegelbahn angeschlossen. Diese Liegenschaft hatten meine Eltern gekauft. Ob noch etwas Geld aus dem Verkauf des Rest. Schiff in Nieder-Uster vorhanden war? Ich weiss es nicht. Ich könnte auf den verschiedenen Gemeinde-Ämtern nachfragen, von wann bis wann wir da oder dort waren, um genaue Daten zu haben. Ich mag dies aber nicht, und zudem interessiert es mich auch nicht sehr. Ein disziplinierter Mensch würde dies sicher tun. Disziplin ist jedoch nicht meine Stärke, also lasse ich es bleiben.
Diemberg gehört zur Gemeinde Eschenbach SG. Zur Schule mussten wir nach Lütsch- bach, einem kleinen Bauerndorf, das auch zu Eschenbach gehört. Wir hatten einen weiten Schulweg, und wenn im Winter viel Schnee lag, konnten wir mittags nicht nach Hause. Die Frau des Lehrers machte für die Kinder, welche von auswärts kamen, eine Suppe und dazu gab es ein Stück Brot. Unser Lehrer unterrichtete alle Kinder von der ersten bis zur achten Klasse. Er war ein guter Lehrer, nicht wie Herr Schaufelberger, den gibt es wohl nur einmal, aber Chasper und ich mochten ihn sehr gern. Wenn er am Abend zu einer Sitzung oder in eine Probe nach Eschenbach musste, merkte man dies gut am anderen Morgen, weil es wahrscheinlich spät geworden war, denn er verschwand immer wieder auf unbestimmte Zeit. Er verteilte dann irgend welche Aufgaben und hiess uns ruhig zu sein. Mir brachte er oft ein paar Hefte von Schülern die eine Klasse höher waren als ich, und hiess mich, deren Aufsätze zu korrigieren. Dazu meinte er: "Das ist eine gute Uebung für Dich". Damals schienen mir die Fehler geradezu in die Augen zu springen, im Gegensatz zu heute, da muss ich oft überlegen, wie man dies oder jenes schreibt. Hatte mein Bruder Rechenaufgaben, die zu lösen ihm schwer fielen, hiess er mich in die Bank meines Bruders rutschen, um ihm dabei zu helfen. Das machte ich nur ungern. Chasper sprach danach auf dem Heimweg kein Wort oder rannte mir zornig davon.
Verlumpet
Kurz vor Weihnachten geschah etwas Besonderes: Es war etwa 4 Uhr, die Schule war aus, und wir machten uns auf den Heimweg, als einige Schüler uns den Weg versperrten. Sie fingen laut an zu rufen und zu johlen: "Verlumpet, Verlumpet, Verlumpet". Das galt uns. Wir wollten an ihnen vorbei, aber der Grösste von ihnen stellte sich Chasper kampfbereit in den Weg. (Ein langer, kräftiger Lulatsch, von allen Kindern gefürchtet). Ich hasste ihn, hatte ich doch einmal zugesehen, wie er für 20 Rappen einem Maikäfer den Kopf abbiss. Eines Tages brachte er eine Maus in die Schule. Prahlerisch rief er "wer gibt mir einen Franken, wenn ich dieser Maus den Grind abbeisse?" Ich glaube zwar nicht, dass jemand einen Franken besass, aber wenn, hätte er diese Tat bestimmt begangen. Chasper fuhr ihn zornig an: "Geh aus dem Weg!" Aber der Kerl fing an auf Chasper einzuschlagen. Chasper ging nun seinerseits auf ihn los, wie ein Stier rammte er ihm den Kopf in den Bauch. Der Lulatsch fiel der Länge nach hin, rappelte sich schnell wieder auf, ich glaube, Chasper wäre als Sieger aus dem Duell hervorgegangen, wenn nicht noch zwei Mitläufer auf meinen Bruder eingedroschen hätten. Als sich der "Lange" mal bückte, sprang ich ihm auf den Rücken, klammerte die Beine fest um seinen Bauch, griff ihm in die Haare und riss an seinem Schopf, dass er vor Schmerz aufschrie. Er versuchte mich abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Plötzlich stürzte er in den Graben neben der Strasse, mit dem Gesicht voran in den tiefen Schnee. Er schlug mit allen Vieren um sich, so gut es eben ging mit der Last auf seinem Rücken. Nach einiger Zeit hörte er auf zu zappeln. Er lag ganz ruhig da, und als ich sicher war, dass er mich nicht mit einer Finte hereinlegen wollte, liess ich von ihm ab. Als die beiden Mitläufer sahen, dass ihr Anführer ausser Gefecht gesetzt war, liessen sie meinen Bruder in Frieden und verdrückten sich. Nun kamen aber der Lehrer und seine Frau angerannt. Ob er wohl den Lärm gehört hatte oder ob er gerufen wurde, weiss ich nicht. Sie hoben zusammen den Langen auf und setzten ihn hin. Er kippte aber sofort seitwärts weg und machte keinen Mucks mehr. Nun hielt der Lehrer den Buben fest, und seine Frau griff ihm mit einem Finger in den Mund, um den Schnee, der sich dort festgesetzt hatte, herauszuholen. Sie griff ihm auch in die Nasenlöcher und wiederholte die Prozedur. Dann schlug sie ihn leicht auf die Wangen, bis er die Augen öffnete und blöd umherglotzte. Die meisten Kinder hatten sich verzogen, die restlichen schickte der Lehrer nach Hause. Als wir heimwärts trotteten, merkte ich, dass Chasper auf mich wütend war. Ich hatte eigentlich ein Lob erwartet. Stattdessen fuhr er mich zornig an: "Warum hast Du Dich eingemischt, ich wäre ganz gut ohne Dich mit den Dreien fertig geworden. (Was nicht stimmte). Man muss sich ja schämen mit Dir, ein Mädchen, das sich mit Buben herumschlägt, Pfui Teufel, und wie Du ausgesehen hast, wie ein mickriger Affe auf einem Riesengorilla". Dann rannte er los. Ich rief, "bitte, Chasper, warte doch auf mich". Aber wenn Chasper rannte, kam ihm nicht so schnell einer nach. Am anderen Tag durfte ich nicht in die Pause. Der Lehrer wollte genau wissen, was vorgefallen war, und so erzählte ich denn wahrheitsgetreu. "Du bist Dir scheinbar gar nicht bewusst, was gestern hätte geschehen können. Also ist es wohl das Beste, nicht mehr darüber zu reden", meinte er. Zu Hause suchte ich nach meinem Vater und fragte: "Was heisst eigentlich verlumpet? "Warum willst Du das wissen?" "Weil uns die Kinder in der Schule dies nachrufen". Er kratzte sich in den Haaren, und ich wusste, dass er sich verdrücken wollte. Also liess ich nicht locker, denn ich wollte es wissen. "Also, verlumpet sagt man, wenn jemand in Konkurs geht und Konkurs geht man, wenn man seine Rechnungen nicht bezahlen kann und andere Verpflichtungen nicht einhält." "Also machen wir Konkurs?". "Ja so ist es!"
Knapp vor Weihnachten fragte mich Vater, was ich denn wünsche aufs Christkindli. Eigentlich habe ich nur einen Wunsch: "Ich möchte so gerne einen Christbaum haben und dann noch etwas, Vater. Könntest Du vielleicht machen, dass Mutter an diesem Abend nicht trinkt?" Er räusperte sich, "Ich will mal sehen, ja bestimmt". Ich war voller Hoffnung, dass Vater alles konnte, wenn er nur wollte. Es würde sicher ein schöner Weihnachtsabend werden. Als ich dann am Heiligabend nach Hause rannte, in der Gewissheit, alles würde nun wieder gut werden wie in Adligenswil und in Nieder-Uster, war nichts von einer weihnachtlichen Stimmung zu spüren. Auf dem Küchentisch lagen zwar Spanische Nüssli und Mandarinen. Chasper machte sich gleich darüber her, denn sein Innenleben war wohl etwas weniger kompliziert als das meine. Dichter Schneefall hatte eingesetzt, und so, wie ich war, lief ich nach draussen über die Strasse. Vor dem armseligen Häuschen unserer Nachbarn blieb ich stehen. Sie hatten vier Kinder, zwei davon im Alter von Chasper und mir. Ich schlich mich nahe ans Fenster, die Familie sass um den Stubentisch, an einem kleinen Tannenbaum brannten Kerzen und sie sangen "O Du Fröhliche ...... " Bei diesem Anblick lernte ich kennen was Neid heisst. Bis dahin hatte ich es nicht gewusst. So furchtbar es klingen mag, aber ich wünschte mir, dass der Christbaum zu brennen anfinge und die ganze Familie hinausrennen müsste, hinaus in die kalte Christnacht, um im Schneegestöber zu frieren, genau wie ich. Ich entfernte mich vom Fenster und setzte mich an den Rain, der mich von unserem Haus trennte. Der Neid verflog, wie er gekommen war, ich konnte nur noch weinen. So sehr ich mir auch Mühe gab, das Schluchzen wollte nicht aufhören. Ich war in den folgenden Jahren sicher noch oft verzweifelt, aber nie mehr so, wie an jenem Weihnachts-Abend. Ich dachte an meines Bruders Gedicht "Rübezahl", würde morgen auch nichts mehr an mich erinnern als einem kleiner, weisser Hügel? Mutter hatte uns manchmal gewarnt vor Selbstmittleid. "Hütet euch davor", sagte sie, "es bringt gar nichts, im Gegenteil es wirkt zerstörend". Die Tränen versiegten, und natürlich wollte ich leben. Etwas Gutes hatte jener Abend. Ich sah nun die meisten Dinge wie sie waren, ich hatte et- was gelernt und wurde um einiges älter. Ich hatte meinen Vater vergoldet, davon bröckelte in jener Nacht ein grosser Teil ab. Ich liebte ihn zwar genau so wie vorher, aber ich sah ihn so, wie er war, und das war nicht mehr so "goldig". Es fiel mir aber auch wie Schuppen von den Augen, wenn ich an meine Mutter dachte. All die Jahre war der grösste Teil an Arbeit, Verantwortung und täglichen Sorgen auf ihren Schultern gelastet. Voller Hoffnung hatte sie sich in Nieder-Uster in die Arbeit gestürzt, in erster Linie, um uns Kindern eine bessere Zukunft zu bieten, Schuld oder nicht Schuld, ich wollte nicht darüber nachgrübeln. Trank sie, um zu vergessen? Ich nehme an, sie fühlte sich als Versager. Hatte sie einfach den Mut verloren und wollte die Situation nicht mehr sehen, in der wir steckten? Wahr- scheinlich, ich stand auf, schüttelte den Schnee ab, der sich angesammelt hatte, und merkte nun, wie erbärmlich ich fror. Ohne jeden Groll im Herzen lief ich ins Haus, direkt in unser Zimmer. Mir war dermassen kalt, dass ich zu Chasper ins Bett schlüpfte. Er lag da, zusammengerollt wie ein Igel, friedlich schlafend und mir war, als sei ich viele Jahre älter als mein Bruder. Er brummte zwar ungehalten, als ich meine kalten Füsse an ihm wärmte, aber er wurde nicht wach.
Es war Lehrer Schaufelberger, der mich in Diemberg besuchte. Er war mit der Bahn nach Wald gereist und hatte den Fussmarsch von dort nach Diemberg nicht gescheut, um ein Mädchen zu besuchen, das einst seine Schülerin war. Er sass bei uns im Restaurant, und Mutter rief mich, um ihn zu begrüssen. Er blieb nicht lange, fragte aber meine Mutter, ob ich ihn ein Stück begleiten dürfe. Den ziemlich langen Weg nach Wald benützte er, um mir viele Fragen zu stellen. Ihn interessierte einfach alles, z.B. wie weit mein Schulweg sei, wie meine Klassenkameraden seien, wie unser Lehrer die Schulstunden gestalte, da er ja alle 8 Schulklassen zu unterrichten hatte, usw. Dies alles war ja noch leicht zu beantworten, als er aber fragte, wie es mir hier in Diemberg gefalle, wurde es schwieriger, und ich antwortete ihm: "In die Schule gehe ich eigentlich ganz gerne, aber sonst gefällt es mir hier nicht". Nach längerem Schweigen meinte er, "Du weisst wohl kaum, weshalb Deine Eltern von Nieder-Uster nach Tann-Rüti zogen und dann nach diesem Diemberg?" Nein, das wusste ich nicht, da gab es wohl diesen Besuch von J.H .. Etwas musste damals geschehen sein, aber ich konnte die Zusammenhänge nicht deuten. Er fragte mich dann nicht weiter, sondern ging dazu über, Erinnerungen aufzufrischen aus meiner Schulzeit bei ihm. Er erzählte auch einige Anekdoten, an die er sich noch ganz gut erinnern konnte und meinte dann, dass ich ein sehr fröhliches Kind gewesen sei damals, und dass meine Fröhlichkeit oft die ganze Klasse angesteckt hätte, ihn inbegriffen. Mittlerweile waren wir in Wald angelangt und warteten auf seinen Zug. Er gab mir dann noch den guten Rat, meinen Kopf blass nicht hängen zu lasse, und ich sollte mir Mühe geben, dass ich mein Lachen nicht ganz verlernen würde. Es gehe selten im Leben nur bergab, und ich sollte fest daran glauben. Dann musste er seinen Zug besteigen, und wir winkten einander, solange wir uns sehen konnten. Dieser Besuch brachte mir viel, sehr viel. Auf dem Heimweg liess ich mir alles nochmals durch den Kopf gehen, da war also jemand, dem ich nicht gleichgültig war, ja, der mich sogar gern hatte. Wieviel Hoffnung eine solche Begegnung in einem jungen Menschen auslösen kann, ist schwer zu beschreiben. Alles, was einen bedrückt, lässt sich kaum abschütteln, aber ich fühlte doch, wie sich mein Optimismus zu regen begann. Uebrigens besuchte mich mein Lehrer viele Jahre später noch einmal in Stein am Rhein. Da war ich schon dreifache Mutter. Woher er meinen Wohnsitz wusste, kann ich nicht sagen, hoffentlich treffe ich ihn irgend einmal im "Jenseits" (wo auch immer das sein mag).
Langsamverkehr, zum Beispiel mit der Polybahn in Zürich
Langsamverkehr ist in aller Munde...Momente der Geruhsamkeit in der Hektik des Alltags, beispielsweise bei der Fahrt mit der Standseilbahn vom Central zur Polyterrasse. UnsereGeschichte lädt ein zum Zeigen von Dokumenten zu solchen Momenten, beispielsweise in der Galerie https://unseregeschichte.ch/galleries/langsamverkehr.