Aus dem Leben der Verena Huter-Sidler 4. Tann-Rüti ZH
4. Tann-Rüti ZH / Restaurant Rosenburg
Dort wohnte die Familie Sidler-Rogger etwas mehr als 1 Jahr, von ca. 1933-1934
Es wird ein kurzer Bericht über die Zeit in Tann. Obwohl ich einige Jahre älter war als in Adligenswil, kann ich mich nur an sehr weniges erinnern. Ich weiss nicht, ob wir die Rosenburg in Pacht oder ob wir diese gekauft hatten. Es war ein Ausflugs-Restaurant, etwas in der Höhe gelegen, mit einer kleinen Landwirtschaft dabei. Weder an das Innere des Hauses noch an Scheune oder Stall ist mir eine Erinnerung geblieben. Die Garten-Wirt- schaft und unser Schulweg sind das einzige, das ich noch vor mir sehe, wenn ich an diese Zeit zurück denke.
Wir hatten keinen langen Schulweg, höchstens 15 Minuten. Als Chasper und ich eines Mittags auf dem Heimweg waren, klagte ich über grosse Bauchschmerzen. Chasper meinte; "Komm nur, das geht schon wieder vorbei, das hatte ich auch schon oft". Links und rechts unseres Weges standen hohe Kornfelder, also muss es Ende Sommer gewesen sein. Ich setzte mich auf den Boden und stöhnte, dass ich keinen Schritt mehr gehen könne. Chasper wollte mich tragen. Als ich aber vor Schmerz aufschrie, liess er mich erschrocken fallen. Als ich erwachte, lag ich im Spital in Rüti, der Blinddarm war schon draussen. Ein junger, netter Arzt machte Visite, er setzte sich zu mir und meinte: "Diesen Bösewicht von Blinddarm haben wir noch im letzten Moment erwischt, bevor er aufplatzen konnte. Es verlief tip top". Und als mir der Arzt als erstes die Narbe zeigte, schien er auf seine Kenntnisse mächtig stolz zu sein. Vielleicht war es seine erste Operation. Ich fühlte mich richtig wohl und glücklich im Spital, ich las stundenlang Kinder- Bücher und freute mich täglich auf den Besuch des Arztes, der mir kleine Kunststücke vorführte, u.a. wie man einen Finger abreissen kann. Diesen Trick brachte er mir auch bei, manchmal führe ich ihn heute meinen Enkelkindern vor. Eines Tages sagte er dann: "Heute mache ich Dir eine besondere Freude, morgen darfst Du nach Hause". Meine Reaktion war wohl nicht das, was er erwartet hatte. Ich drehte den Kopf weg und sagte kein Wort. Er war sicher ratlos und fragte: "Wirst Du vielleicht zu Hause geschlagen? Ich sah ihn erstaunt an. "Geschlagen? Nein niemals, nur vor ein paar Jahren warf mich mein Vater in den Schuppen, aber das hatte ich verdient. Ich habe nämlich einen Mohrenkopf gestohlen und erst noch abgeleugnet, dass ich es war". Er schwieg eine ganze Weile und wollte wissen, ob ich etwa Angst hätte vor jemandem, z.B. in der Nachbarschaft oder in der Verwandtschaft. "Wir haben gar keine Nachbarn, und unsere Verwandten kamen zwar oft, als wir in Nieder-Uster waren, aber jetzt kommt niemand mehr, sie wohnen ja auch weit weg". Was hätte ich denn sagen sollen? Etwas aus meinem Leben sei verschwunden, ich würde vergebens danach suchen, ich wüsste nicht was, es liesse sich nicht mehr finden? Ich war ja noch ein Kind und konnte meine Gedanken nicht in Worte fassen.
Es war in dieser Zeit, als Mutter zu trinken begann. Konnte ich das vielleicht jemandem sagen? So viele schöne Jahre, reich an Erinnerungen an meine liebe, meist fröhliche Mutter, die so wunderbar Märchen erzählen konnte und uns so vieles beibrachte, was im Leben wirklich zählt. Nein, das konnte und wollte ich auch nicht. An einem schönen Sonntag-Nachmittag sagte unsere damalige Serviertochter zu mir: "Geh in die Gartenwirtschaft, dort wartet jemand auf Dich". Er, mein Arzt vom Spital, sass an einem Tisch, neben ihm ein hübsches Mädchen oder vielleicht seine Frau. Er stellte mich vor: "Das ist nun der kleine Bücherwurm, von dem ich Dir erzählt habe". Wir plauderten eine Weile zusammen, er fragte nach meinem Ergehen, und als ich mich dann verabschiedete, reichte er mir ein hübsch eingewickeltes Päckli. "Schau, da habe ich Dir etwas mitgebracht, mach es nur auf' Es war ein Buch über Tiere mit vielen Bildern und Beschreibungen. Noch nie hatte ich ein so schönes Geschenk bekommen. Sprachlos vor Freude starrte ich ihn an, um endlich zu stottern: "Darf ich das wirklich behalten?" "Natürlich, Du brauchst doch ein Andenken an Deinen Blindarm-Entferner". Ich weiss nicht, wie oft ich dieses Buch von vorn bis hinten gelesen habe. Als ich etwa 12 Jahre später heiratete, war es bei meiner Züglete nach Uznach noch immer dabei, eine wunderschöne Erinnerung. Ich glaube, wir waren nicht einmal ein Jahr auf der Rosenburg, da standen sie wieder bereit, die Kisten, Schachteln und Zainen. Weder für Chasper noch für mich war es traurig wegzugehen, die Zeit war zu kurz um Wurzeln zu fassen. Ich kann mich zwar noch an das Schulhaus erinnern, aber an keines der Kinder, das mit uns die Schulbank drückte. So zogen wir weiter nach Diemberg / St. Gallen
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