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Aus dem Leben der    Verena Huter-Sidler     6. Bürg SG

1936
Christoph Huter

6. Bürg SG

Ca. 1936-1937

Es wurde Ende Winter, bis wieder die Zainen, Kisten und Schachteln bereit standen, kein ungewohnter Anblick mehr. Mutter rettete, was möglich war, damit es nicht in die Konkursmasse kam: Ihr altes, hübsches Porzellan, das Silber-Besteck, für das sie so lange gearbeitet hatte und einige schöne Leinen-Tischtücher, auf die sie sehr stolz war. Wir zügelten nach Bürg, nur etwa eine halbe Stunde entfernt vom vorherigen Wohnort, Diemberg SG. Mit einem Handwagen brachten wir unsere Habe nach und nach in diese Bruchbude, von der ich schon einmal berichtet habe. Nun ging ich also in Bürg zur Schule. Mein Lehrer hiess W. Breu, ein ruhiger, guter Lehrer. Eine Klosterfrau gab uns Mädchen Unterricht in Handarbeit. Meistens waren dies sehr langweilige Arbeiten. Man musste z.B. alte Bett-Tücher von zu Hause mitbringen, defekte Stellen herausschneiden, aus Resten ein neues Stück einsetzen oder Hemden, deren Kragen kaputt war, abtrennen, vom Hemdenstock ein Stück Stoff nehmen und daraus einen neuen Kragen machen. Zerlöcherte Socken flicken, den Maschenstich lernen, und zwar rechte und linke Maschen. Meine Arbeiten fielen samt und sonders miserabel aus. Wir mussten Tag-Hemden machen, welche die Nonne uns zuschnitt und dazu passende Unterhosen. Die Hemden reichten uns bis zu den Knien, die Hosen waren weit und ebenso lang, einfach grässlich. An diesen Prachtstücken mussten wir Hohlsäume anbringen, eine sehr mühsame, langwellige Arbeit. Immer wieder musste ich diese Hohlsäume aufmachen, weil ich einen Faden zu viel oder zu wenig erfasst hatte, und je länger desto schlimmer sah dann das Ganze aus. Als wir eines Tages das Schulzimmer betraten, hatte die Nonne quer durchs Zimmer ein Seil aufgespannt. Alle meine Arbeiten waren mit Wäscheklammern dort festgemacht. Sie hatte auch einen grossen Karton aufgehängt, auf dem stand geschrieben: « Als abschreckendes Beispiel!» ein furchtbarer Anblick. Sie sah mich strafend an und fragte: "Meinst Du, dass da ein einziges Stück dabei ist, das wir am Examen ausstellen dürften, ohne sich zu schämen? Ich schämte mich zwar nicht, aber sie hatte recht, es war ein unappetitlicher, riesiger Pfusch. Später, als ich Kinder hatte, strickte und nähte ich die meisten Sachen für sie und freute mich an dieser Arbeit, aber damals .....

Sekundarschule oder: Lieber Verhungern als «Almosen» annehmen

Lehrer Breu hielt eines Tages einen Schulkameraden, er hiess Fridolin Kuster, und mich im Schulzimmer zurück, um etwas mit uns zu besprechen. "Euch beide", begann er, "werde ich in Kaltbrunn anmelden für die Sekundarschule, ich werde Euch einen Stundenplan mitgeben. Nach Kaltbrunn müsst ihr das Postauto nehmen. An den Tagen, an denen ihr auch nachmittags Schule habt, bekommt ihr dort eine Suppe und Brot oder sonst eine währschafte Mahlzeit. Postauto und Verpflegung kosten im Monat ungefähr Fr. 20.--, also sehr günstig. Ihr könnt das zu Hause mitteilen, über Näheres werden wir noch sprechen". Zwanzig Franken, das war bestimmt sehr billig, aber sehr viel Geld, wenn man keine 20 Franken hatte. Wir wohnten also in Bürg. Bärti arbeitete, wie schon gesagt, als Koch im Hotel Schwert in Wald, Seppi war noch immer in Adligenswil. Was Xaver arbeitete, weiss ich nicht mehr. Chasper hatte in Laupen eine Stelle als Ausläufer bei einem Metzger angenommen. Die Zeiten waren schlecht, mit vielen Arbeitslosen, und die Löhne sehr niedrig. Hitler begann zudem einen Krieg anzuzetteln. Mein Vater, der noch nie jemandes Diener gewesen war, sagte, wenn schon, dann sicher nicht in diesem Kaff. Er fand eine Stelle in Marthalen/ZH, in einer Futterhandlung mit kleiner Landwirtschaft. Wie wenig er da verdiente weiss ich nicht. Hie und da besass meine Mutter ein 10er oder 20er Nötli. Damit schickte sie mich zum Einkaufen. Der «Kostgänger» P.Z. war noch immer bei uns. Es stimmt aber nicht, dass er uns auf der Tasche lag. Morgens war er meistens schon ausser Haus, wenn ich aufstand, und abends schlief ich oft schon, wenn er heim kam. Manchmal brachte er ein paar Würste, einige Koteletts oder etwas Schaffleisch mit. Wie er dazu kam, ist mir nicht bekannt. Xaver meinte oft ironisch, P.Z.'s Viehhandel sei nur noch auf Feder-Vieh, alte Geissen oder auf ein Schwein, das am verrecken sei, beschränkt. Xaver stand damals mit der ganzen Welt auf Kriegsfuss. Später behauptete Xaver oft, meine Eltern hätten mich nicht in die Sekundarschule gehen lassen das stimmt nun einfach nicht. Ich kam mit den Unterlagen von Lehrer Breu nach Hause, Mutter freute sich sehr, dass ich vorgeschlagen wurde für die Sekundarschule. Als ich sie auf die Kosten hinwies, welche dieser Schulbesuch in Kaltbrunn verursachen würde, meinte sie: "Es wird schon irgendwie gehen. Vielleicht finde ich eine Arbeit, dann sieht alles wieder etwas besser aus". Sie wusste so gut wie ich, wie schwer es war, aber sie wollte mich nicht entmutigen. In jener Nacht lag ich lange wach und dachte über die ganze Situation nach. Einmal angenommen, es wäre möglich, das Geld aufzubringen, gab es noch anderes zu bedenken. Ich hatte schon öfters Sekundarschüler gesehen, wenn diese in das Postauto ein- oder ausstiegen. Sie waren nicht etwa "nobel" gekleidet, wirklich nicht, aber sie trugen doch Sachen, die ich nicht besass. Ich war etwas in die Höhe geschossen (endlich), man sah es sehr deutlich an den zu kurzen Ärmeln. Eine Schürze verdeckte den zu kurzen Rock, aber nach Kaltbrunn gingen die Mädchen ohne Schürze, mochte diese noch so sauber und schön gebügelt sein. In Bürg waren alle etwa gleich gekleidet, ich wäre nie schmutzig oder mit kaputten Sachen in die Schule gegangen. Zudem war ich ja schon ein grosses Mädchen. Jeden Samstag half ich Mutter bei der Wäsche, und da waren auch meine Kleider dabei, so dass ich am Montag zur Schule gehen konnte, ohne mich schämen zu müssen. Aber nach Kaltbrunn! Das war etwas ganz anderes, da hiess es wirklich gut überlegen. Was würde z.B. geschehen, wenn ich das Postauto oder die Suppe nicht bezahlen konnte? Musste ich dort etwa Hefte, Bleistifte, usw. kaufen? Was, wenn ich das nötige Geld nicht besass? Wenn ich nur an diese Schande dachte, überlief es mich heiss und kalt. Xaveri und Chasper besassen selber nichts, Bärti verdiente zwar wenig, aber doch so, dass er jeden Monat etwas hätte beisteuern können, er aber sparte eisern jeden Franken, er gab nichts her, wenn es nicht unbedingt sein musste. Der sprichwörtliche Stolz der Roggers war nicht an mir vorbei gegangen. Nein, auch ich hatte ein ansehnliches Stück geerbt, also ersparte ich mir diese Demütigung, ihn um Geld zu bitten. Ich wusste, die Entscheidung lag nur bei mir. Nach langem Abwägen war sie dann auch gefallen, und ich sagte Herrn Breu: "Würden Sie mich bitte nicht anmelden für die Sekundarschule!" Der Lehrer fragte erstaunt: "Warum nicht?" "Weil ich nicht gehen möchte", "Hast Du etwa Angst, dass Du es nicht schaffen würdest?" "Nein, das habe ich nicht". Herr Breu war sicher orientiert über unsere wirtschaftliche Lage, denn in einem so kleinen Dörfchen bleibt nur weniges verborgen. Er schien zu überlegen. Nach ausgiebigem Räuspern meinte er: "Also wenn es die Kosten sein sollten, die entstehen, braucht Dich dies nicht zu beunruhigen. Soll ich mit Deinen Eltern sprechen oder willst Du ihnen das ausrichten?" Ich wollte auf keinen Fall, dass er zu uns nach Hause kam. Ich wusste, was er damit meinte, als er sagte, was die Kosten betreffe usw. Meine Mutter sagte oft, lieber möchte sie mit der ganzen Familie verhungern als von irgend jemandem einen "Almosen" annehmen. In dieser Beziehung herrschte völlige Einigkeit in unserer Familie. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dieser Verzicht hätte mir nichts ausgemacht. Ich wäre sehr gerne in die Sekundarschule gegangen, aber in der beschriebenen Weihnachtszeit habe ich auch dies gelernt: "Mach das Beste aus dem was du hast, auch wenn es wenig ist", gemäss dem Sprichwort, das meine Mutter oft zitierte: "De hätti doch und de wäri doch sind Brüedere gsi, s'hends beidi zu nüt bracht". In dieser Zeit reifte in mir der Entschluss, dass ich zwar die 7. Klasse noch besuchen würde, aber auf keinen Fall die 8. Klasse. Nicht dass ich mir etwa einbildete, ich könnte nichts mehr lernen, ganz bestimmt nicht, lernen kann man doch immer, wenn man will, aber es war wirklich oft so, dass diese beiden Klassen dieselben Aufsätze hatten, ähnliche Diktate, usw. Was die Rechnungen angeht, waren die der 8. Klasse nicht viel anspruchsvoller Das ist nicht nur daher gesagt, ich besass ein Rechnungs-Büchlein der 8. Klasse und prüfte mich selber, und zwar nicht oberflächlich. Der eigentliche Grund aber war wohl dieser: Ich mochte plötzlich nicht mehr zu Schule gehen, der Eifer, die Freude, die mich mit wenig Ausnahmen durch alle Schuljahre begleitet hatten, waren verschwunden. Nein! keine Sekundarschule, aber auch keine 8. Klasse, das stand fest.

Erste Anstellung

Von Fräulein lda vernahmen wir, dass sie auf das Frühjahr ein Mädchen zur Mithilfe im Haushalt suche. Das kam mir nun sehr gelegen. Ich sprach bei ihr vor, um mich für diese Stelle zu bewerben. Ich sagte ihr, dass nun bald das Examen sei und ich gerne bei ihr arbeiten möchte. Was ich nicht erzählte, war, dass ich eigentlich nochmals ein Jahr zur Schule gehen müsste. Ich war einfach davon überzeugt, dass ich mich durchsetzen würde. Fräulein lda sprach mit meiner Mutter über diese Angelegenheit. Sie äusserte sich dabei, dass ich zwar nicht gerade kräftig aussehe, aber sie wolle es probieren. Es wurde abgemacht, dass ich zwar keinen Lohn bekommen sollte, dass wir aber als Gegenleistung keine Miete zu bezahlen hätten. Die Miete betrug, wenn ich mich nicht irre, 35 Franken. Ich war unglaublich stolz auf mich. Nun würde ich also auch etwas beitragen können zu unserem Lebensunterhalt.

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Christoph Huter
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31 August 2024
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