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Aus dem Leben der       Verena Huter-Sidler      7. Eschenbach SG

1936
Christoph Huter

7. Eschenbach SG / Restaurant Kreuz

ca. 1936 - 1937

Ein paar Wochen vor dem Examen war es wieder so weit: Wir zügelten nach Eschenbach. Im Restaurant Kreuz war im 1. Stock eine Wohnung frei geworden. Wir waren alle froh, aus dieser deprimierenden Wohnung (Bürg SG) fort zu kommen. Ich sprach mit meinem Lehrer, ob ich wohl die paar Wochen Schule bis zum Examen nach Bürg kommen dürfte, statt in Eschenbach neu anzufangen. Er versprach, dies in Ordnung zu bringen, was er auch tat. Der Schulweg von Eschenbach nach Bürg war ziemlich weit, aber es war ja nur für kurze Zeit. Das Examen ging gut vorbei, die Züglete auch, nun wohnten wir also in Eschenbach. Das Restaurant Kreuz gehörte einer Familie Rüegg. Sie bestand aus Herrn Rüegg, einem alten Mann, (er war damals noch Inhaber) und seiner Tochter, Fräulein lda. Ein alter kleiner Mann hauste in einem Dachzimmer, dies war ein Bruder von Herrn Rüegg. Ein Sohn, Hr. Rüegg jun., betreute eine kleine Landwirtschaft, die etwa eine halbe Stunde entfernt war. Die Tochter, Fräulein lda, hielt alles im Schuss. Herr Rüeggs Bruder, von allen der Vetter genannt, kam nur zum Essen hinunter in die Küche. Da schlürfte er sein Essen, um nachher wieder sein Dachzimmer aufzusuchen. Der Vetter sprach selten ein Wort, genau so selten richtete jemand das Wort an ihn, er war wohl einfach geduldet. Vielleicht war er gar nie voll arbeitsfähig gewesen, er war ein sehr mickriges, altes Manndli. Die Wohnung im Kreuz war sehr einfach, aber der Herd in der Küche qualmte nicht. der "Ofen" in der Stube zog gut und gab eine angenehme Wärme ab. Zudem waren die Zimmer viel heller als diejenigen in Bürg, also wirklich ein Grund zufrieden zu sein. Xaver und Chasper bezogen ein Dachzimmer, gleich neben dem Vetter, dies gehörte zu unserer Wohnung.

Wir kannten niemanden näher in Eschenbach, Chasper und ich besuchten im Dorf ja nur den Religions-Unterricht und die Kirche. Dies machte uns nun nichts mehr aus. Chasper arbeitete als Ausläufer noch immer in Laupen, und ich war auch kein kleines Mädchen mehr.

Nun musste ich mir überlegen, wie diese 8. Klasse zu umgehen war. Unser Dorf- Pfarrer war gleichzeitig Schulpräsident, also wohl zuständig für mein Problem. Ich sagte zu meiner Mutter: "Heute Abend werde ich den Herrn Pfarrer aufsuchen und ihm sagen, dass ich die 8. Klasse nicht absolvieren werde". Mutter meinte, dass ich kaum Erfolg ha- ben würde, da Gesetze bestünden, auf welche er mich aufmerksam machen müsste. Ich entgegnete: "Ich kann einfach nicht mehr und will auch nicht mehr, zudem haben wir Fräulein lda doch versprochen, dass ich am Tag nach dem Examen bei ihr anfange". Mutter meinte: "Nun ja, ohne ein Gespräch mit dem Herrn Pfarrer geht es nicht, Du kannst nicht einfach von der Schule fernbleiben, aber Du wirst sehen, dass er Dich mit ein paar salbungsvollen Worten abspeisen wird, von denen Die ja haufenweise in "spe" haben." Das Pfarrhaus war nur einige Minuten von unserem neuen Wohnsitz entfernt. Klopfenden Herzens drückte ich auf die schön polierte Klingel. Die Haushälterin kam, um die Türe zu öffnen, sie war des Pfarrers Schwester. Sie kannte mich vom Religions-Unterricht her: "Nun Verena, was führt Dich des Weges?" "Ich möchte gerne mit dem Herrn Pfarrer sprechen". "Der Herr Pfarrer hat sehr viel zu tun, aber Du kannst mir sagen, was Dich beschäftigt, ich werde dies dann an den Herrn Pfarrer weiterleiten". Das konnte ich nun wirklich nicht. Also sagte ich: "Nein, ich muss unbedingt mit dem Herrn Pfarrer selber sprechen". Sie wurde ein bisschen ungehalten und meinte: "Ich habe Dir doch gesagt, dass er beschäftigt ist, ich kann ihn ja fragen, ob Du an einem anderen Abend vorbei kommen kannst". Das wollte ich auch nicht, ich musste die Sache hinter mich bringen und zwar so rasch als möglich. "Es ist etwas sehr Wichtiges, ich muss unbedingt zu ihm". "Nun, dann warte halt, ich werde ihn fragen". Sie kam bald zurück und sagte: "So komm herein", öffnete eine Türe und sagte: "Du kannst hier im Studierzimmer warten". Dies war nun bedeutend besser, und wenn es eine Stunde oder länger dauern sollte, ich würde mich nicht vom Fleck rühren. Da stand ich nun in diesem wunderschönen Zimmer, wo man hinschaute, überall Bücher, die meisten in Leder gebunden, mit goldener Schrift auf dem Rücken. Ich konnte nur staunen. Ich trat etwas näher, um die Titel lesen zu können, fand aber keine mir bekannten, sodass ich annehmen musste, dass die Lieblings-Schriftsteller des Pfarrers nicht die gleichen waren wie die meinen. Aber dann trat er ins Zimmer, begrüsste mich freundlich, hiess mich Platz nehmen auf einem gradlehnigen Holz-Stuhl und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. "So", meinte er, "nun sag mir, was Dich zu mir führt". Da sass ich also auf diesem schön polierten Stuhl, den Rücken sehr gerade, Füsse und Knie nah beieinander und die Hände im Schoss gefaltet, wie Mutter mir dies beigebracht hatte. (Aus der Haltung eines Menschen lässt sich sehr viel entnehmen, also halte Dich immer sehr aufrecht). "Also, Herr Pfarrer, ich wollte Ihnen sagen, dass ich die 8. Klasse nicht besuchen werde", (dies waren nun nicht die Worte, die ich mir so schön zu- recht gelegt hatte). Er sah mich so erstaunt an, als ob er sich fragte, ob er wohl recht gehört habe. "Was meinst Du damit?" Ich versuchte zu erklären, dass mit dem Abschluss der 7. Klasse meine Schulzeit beendet sei. Das konnte er natürlich nicht so ohne weiteres schlucken, er erzählte von fest verankerten Gesetzen, von der Wichtigkeit der Schulbil- dung, usw. Seine Erläuterungen zogen sich dermassen in die Länge, dass es mir schwerfiel, die aufmerksame Zuhörerin zu spielen. Als er endlich aufhörte zu reden, stand er auf und sagte: "Ich hoffe, dass ich Dir verständlich machen konnte, dass Dein Ansinnen jeder gesunden Logik widerspricht". Sollte er nur aufstehen, ich jedenfalls blieb sitzen und sagte: "Ich werde diese 8. Klasse aber wirklich nicht mehr besuchen. Zudem will ich Geld verdienen, wir haben es nämlich nötig". Nun setzte er sich wieder und meinte: "Wäre es nicht an Deinen Eltern gelegen, zu einem Gespräch zu kommen statt ein minderjähriges Kind zu schicken". Das konnte ich nun wirklich nicht auf meiner Mutter sitzen lassen, also erwiderte ich: "Es hat mich niemand geheissen die Schule zu verlassen, das Gespräch mit Ihnen war meine Idee, meine Mutter hat sogar gewarnt und gesagt, man wird Dich mit ein paar schönen Worten abspeisen". Er zog die Brauen in die Höhe. "So, so hat Deine Mutter gesagt!" Nach einigem Nachdenken fragte er: "Wie glaubst Du denn, dass Du Geld verdienen könntest, Du bist ja nicht mal ganz 13 Jahre alt, keine Fabrik dürfte Dich beschäftigen, auch in dieser Beziehung gibt es gottlob Gesetze". "Aber ich gehe ja gar nicht in eine Fabrik, ich habe schon eine Stelle bei Fräulein lda im Restaurant Kreuz, wir wohnen nämlich seit ein paar Tagen dort. - "Fräulein lda ist eine gottesfürchtige Person, dort wärst Du gut aufgehoben, nach der 8. Klasse versteht sich". Nun erklärte er mir sehr lange, wie wichtig eine gute Schulbildung für das spätere Leben, sei, wie man diese Zeit unbedingt nützen sollte, um sich so viel Wissen wie nur möglich anzueignen. Er öffnete eine seiner Schubladen, holte einige Schriftstücke heraus, um sich darin zu vertiefen und fragte plötzlich: "Du warst vorgeschlagen für die Sekundarschule, weshalb hast Du abgesagt?" "Weil ich Geld verdienen muss". "Wärst Du gerne in die Sekundarschule gegangen?" "Ja, die hätte ich gerne besucht, aber nicht die 8. Klasse. Wissen Sie Herr Pfarrer, ich lese sehr viel und gerne, meine Mutter sagt, lesen ist die beste Bildung und für die meisten Menschen erschwinglich". "So so, sagt Deine Mutter!" Dann kam eine Frage, die ich nicht erwartet hatte: "Woher bekommst Du Deinen Lesestoff, Bücher sind doch sehr teuer?" Nun erzählte ich ihm aus der Jugendzeit meiner Mutter und wie sie zu Büchern gekommen war. "Nun würde mich noch sehr interessieren welche Bücher Du liest?" Sonst eher zurückhaltend und nicht redselig, fühlte ich nun festen Boden unter den Füssen, es brauchte nur Gespräche über Bücher, um mich aus dem Schneckenhaus zu locken. Also zählte ich Titel samt Namen der Schriftsteller auf, bis ich fast ausser Atem war und als Krönung des Ganzen sagte ich noch: "Dann haben wir noch "Die lustigen Weiber von Windsor und Lady Macbeth von W. Shakespeare" Er schrieb meistens Dramen fürs Theater. Beschämt hielt ich plötzlich inne, mir wurde bewusst, dass er dies alles viel besser wusste als ich. Nun konnte ich auch sein leicht amüsiertes Lächeln deuten, und meine Begeisterung wich grosser Verlegenheit. Sein Lächeln verschwand, er sah mich lange an und meinte, "der grösste Teil dieser Bücher ist absolut nicht geeignet für ein Kind von 13 Jahren. Zudem bezweifle ich, und zwar mit Recht, dass Du diese Literatur verstehst". "Herr Pfarrer, das stimmt, was Sie sagen, oft muss ich eine einzige Seite 3–4-mal lesen und selbst dann macht es mir Mühe, den wahren Sinn zu begreifen. Wenn Fremdwörter vorkommen, dann kann ich meine Mutter fragen, sie kennt nämlich die meisten. Sie will aber nicht, dass wir solche benützen, meine Mutter sagt: - Menschen, die mit Fremdwörtern um sich werfen, sind mit Vorsicht zu geniessen, meist ist es mit solchen nicht weit her. Intelligente Menschen tun dies nicht, sie haben es nicht nötig. - "So so, sagt Deine Mutter". Er hielt wohl nicht sehr viel von ihr, obwohl er sie gar nicht kannte. Sie ging selten oder gar nicht zur Kirche. Nun stand ich auf, um mich zu verab- schieden, ich hatte seine Zeit lange in Anspruch genommen. Er war auch aufgestanden und streckte mir die Hand hin. "Herr Pfarrer, ich danke Ihnen vielmals" und steuerte rasch auf den Ausgang zu. Erst unter der Türe rief ich noch schnell: "dass ich nun die 8. Klasse" ... weiter kam ich nicht. "Halt, Halt", meinte er, "ich kann mich nicht erinnern, so etwas gesagt zu haben." "Nein, das haben Sie nicht Herr Pfarrer", und draussen war ich. Als ich in unsere Stube trat, fragte mich meine Mutter: "Warst Du etwa so lange im Pfarrhaus?" Ich erzählte ihr so genau wie möglich, wie sich alles abgespielt hatte, ich glaube, sie war fast ein bisschen stolz auf mich. So empfand ich es wenigsten, als sie meinte: "Das war so typisch Roggerisch!" Im Ton, in dem sie dies sagte, schwang eine gewisse Genugtuung mit. Eine kleine Ernüchterung blieb, ich hatte keine Zusage bekommen, nicht die kleinste. Dann kam das Examen, an einem Mittwoch. Donnerstag, um 7 Uhr, stand ich in der Küche bei Fräulein lda (mir erschien sie als ältere Jungfer, sie war wohl zwischen 40 und 50 Jahre alt). Als die Wochen vergingen, ohne dass ein Brief kam von der Schulbehörde, fühlte ich mich von einem grossen Druck befreit. Keines der Kinder, mit denen ich die 7. Klasse besucht hatte und die nun in der 8. Klasse waren, fragte, warum ich nicht zur Schule käme. Sie dachten wohl (wenn überhaupt), ich sei einmal sitzen geblieben. Diese Vermutung traf meinen Stolz in keiner Weise. Es war am Anfang jenes Jahres, als P.Z. krank wurde. Er war immer dicker geworden, die Röte seines Gesichtes war einem Blau gewichen und das Atmen schien ihm schwer zu fallen. Mutter rief einen Arzt. Dieser schien keine grosse Hoffnung auf Besserung zu haben. P.Z. war nur ein paar Tage krank (wir hatten sein Bett in der Stube aufgestellt), dann starb er. Ich weiss nicht, wer oder wie seine 2 Söhne benachrichtigt wurden, ich nehme an von meiner Mutter. Der jüngere Sohn, etwa 10 Jahre älter als ich, kam angereist. Als er seinen Vater aufgebahrt in dieser armseligen Umgebung sah, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Ich könnte mir vorstellen, dass P ein guter, liebevoller Vater war. Was zur Zerrüttung seiner Ehe und seiner verkrachten Existenz führte, davon habe ich keine Ahnung. Sein Sohn liess ihn nach Uster überführen,

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Christoph Huter
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31 August 2024
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