Wohngemeinschaften und Hausbesetzungen im Zürich der 1970-er Jahre
Wohngemeinschaften und Hausbesetzungen im Zürich der 1970-er Jahre Auf Top-Liste gesetzt
Markus Kenner und Heinz Looser führten im November 2023 dieses Interview mit mir. Heinz hat den Interview-Text etwas gekürzt und aus der Mundart ins Hochdeutsche übertragen. Deshalb bin ich - Franz Staffelbach - nun in der 3. Person aufgeführt.
Franz Staffelbach erzählt von alternativen Wohnformen nach der 68er-Bewegung und wie er in Berlin zum ersten Mal das Wort «Wohngemeinschaft» gehört hat. Die Kommune 1 ins Berlin war auch für ihn eine 'Initialzündung' . Franz war in dieser Zeit zum ersten Mal in einer WG – und diente sogleich als Hüter von Kindern von Politaktivisten und -aktivistinnen dienste.
In Zürich wohnte er an der Venedigstrasse in einer der ersten WGs, ohne dass es dieses Wort «WG» oder «Wohngemeinschaft» Zürich damals gab. Angefangen hatte es vielmehr mit einem Studentenhaus an der Venedigstrasse 4, welches faktisch als Wohngemeinschaft genutzt wurde. Als Franz Staffelbach aus dem Studentenhaus ausziehen musste, zog er in ein benachbartes Haus an der Venedigstrasse 2, wo eine grosse Wohnung frei geworden war. Zuvor hatte Madame Turel, die Frau von Adrien Turel, in dieser Wohnung gewohnt -sie ist auf einem Bild der ganzen WG in der Küche der Venedigstrasse zu sehen.
Die Form der WG war damals nicht geplant sondern eher eine Verlegenheitslösung für ihn, weil er nun eben die grosse Wohnung gemietet hatte, und er diese sich nicht alleine leisten konnte. In dieser Wohnung an der Venedigstrasse 2 wohnten er und seine Mitbewohner zuerst legal, nach der Kündigung besetzten sie die Wohnung und verweigerten den Auszug.
Franz Staffelbach erzählt davon, wie Giovanni Blumer, dem erklärten «Erfinder der Hausbesetzung in Zürich», die Idee zur Hausbesetzung an der Venedigstrasse verbreitete. Franz hatte selbst auch eine Hausbesetzung in Frankfurt gesehen, bei einer Autofahrt mit Giovanni Blumer durch Frankfurt. «Das könnte man in Zürich auch machen, bemerkte sein Gesprächspartner im Auto. Später griffen Giovanni und er diese Idee wieder auf. . Blumer ging bei der Planung recht systematisch vor, er erstellte gar einen detaillierten Zeitplan für die erste Hausbesetzung, inklusive einer minutiös geplanten Öffentlichkeitsarbeit.
Für die juristische Handlungsfähigkeit gegen aussen und für ein klares Profil wurde ein Verein 'Venedigstrasse' gegründet.
Franz Staffelbach erzählt davon, wie eines Tages die Angestellten eines Bauunternehmens an der Venedigstrasse aufgekreuzt waren, um die Häuser abzureissen. Die Hausbesetzer boten den Leuten aus der Innerschweiz Kaffee an und erklärten ihnen freundlich aber bestimmt, dass sie kein Recht hätten, das Haus abzureissen. Darauf zogen diese wieder ab.
Die Hausbesetzer genossen auch einige Unterstützung, nicht nur im Quartier, sondern von unbekannten Personen, die sie vor Angriffen auf das besetzte Haus warnten. Solche Warnungen waren wichtig und berechtigt, weil es wirklich Angriffe auf das Haus gab. Einmal hatte ein Angreifer gar einen Molotov-Cocktail über den Zaun geworfen. Franz Staffelbach erstattete zwar Anzeige bei der Polizei, jedoch wurde diese von der Polizei nicht ernst weiterverfolgt.
Die Hausbesetzer und -besetzerinnen verstanden es sehr gut, ihre Anliegen verständlich zu machen, beispielsweise mit einer eigenen Mieterzeitung der Hausbesetzer, welche in diesen Jahren eine hohe Auflage erreichte.
Der Bewohnerverein Venedigstrasse setzte sich auch für zahlbare Wohnungen für ältere Leute ein, was ihnen viele Symphathien eintrug.
Unterstützend waren auch gezielte und publikumswirksame Aktionen: Franz Staffelbach erzwang beispielsweise im Gemeinderat das Vorlesen einer Erklärung von der Brüstung der Tribüne herab.
Die Personen aus der Hausbesetzerszene gerieten zwischendurch auch in handfeste Auseinandersetzung mit der Polizei, die damals sehr rudimentär ausgerüstet war. Die Polizisten trugen noch keine Kampfanzüge und sie waren auf Strassenkämpfe nicht vorbereitet. So spielte sich das Gezerre um einen Verhafteten auf Augenhöhe ab, mit den blossen Händen.
Das Leben in WGs in dieser Zeit (1970 er Jahre) war recht unterschiedlich, insbesondere variierte das Ausmass der Gemeinschaftlichkeit und die Ausgestaltung der Intimsphäre mit oder ohne geschlossene Türen. Die Küche war jedoch wohl überall der zentrale Ort. Mitunter wurde aber auch das Badezimmer zum Gemeinschaftsraum und zum Ort von Gelagen und Empfängen.
Eine der markanten Figuren in der Hausbesetzer-Szene war Guy Barrier, der in einer WG in Volketswil wohnte. Er war eine äusserst umstrittene Person, einige junge Frauen gaben ihm sogar Hausverbot in ihrer WG.
In den besetzten Häusern fanden unterschiedliche Menschen Platz, unter anderem auch Menschen aus der sogenannten 'Heimkampagne'.
Wichtig waren in der Hausbesetzer-Szene die Bemühungen um ein gutes Image (so wurde beispielsweise strikt gegen harte Drogen vorgegangen).
Letztlich wurden an der Venedigstrasse insgesamt fünf leerstehende Häuser besetzt.
Die politischen Parteien waren damals noch keine Ansprechpartner für die Hausbesetzer. Sogar die SP hatte sich vermutlich damals gegen Hausbesetzungen ausgesprochen. Einzig Lilian Uchtenhagen von der SP kam einmal an der Venedigstrasse auf Besuch. Hingegen waren linke Gruppierungen aus der 68er-Bewegungen in der Hausbesetzerszene gut vertreten.
Diese Jahre waren auch sehr geprägt von politischen Diskussionen, von Versammlungen und Abstimmungen, wie hier bei einer Versammlung -vermutlich im Volkshaus.
Ebenso waren Demonstrationen eine übliche Form der Meinungsäusserung.
Bereits am Vortag der Räumung der besetzten Häuser an der Venedigstrasse wurde eine anonyme Warnung in den Briefkasten eines der Häuser gesteckt. Hinweise auf die Räumung kamen von verschiedenen Personen, offensichtlich war der Kreis der Sympathisanten sehr gross.
Die feste Absicht der Hausbesetzer war es, eine friedliche Räumung ohne Gewalt zu ermöglich. Entsprechend wurde auch das Gespräch mit dem Polizeivorstand gesucht, die Bereitschaft zum freiwilligen Abzug war klar vorhanden.
Nach der Räumung zog Franz Staffelbach, wie Viele aus der Venedigstrasse, aufs Land in eine Kommune . Nach zweienhalb zügelte er wieder zurück nach Zürich, wo er zunächst in einer WG und dann alleine wohnte.
Die Hausbesetzung blieb während Monaten ohne Anzeige durch die Polizei. Erst ein Jahr später wurde Franz belangt wegen dem Gebrauch eines Baugerüsts. Er wurde von der Polizei zudem auch einvernommen wegen dem Gebrauch seines Autos für eine Demo und für den Transport von Jugendlichen. Diese waren aus einem Jugendheim geflohen.
In der Hausbesetzer-Szene gab es keine «Drahtzieher», entgegen den Verschwörungstheorien, die bei den Polizisten kursierte.
Eine Person wurde von der Polizei befragt bezüglich Kontakten zur Roten Armee Fraktion (RAF). Dies war jedoch eine Ausnahme, andere wurden diesbezüglich nicht einmal verhört.
In den Jahren nach der Räumung der Venedigstrasse verbreiterte sich die WG-Szene enorm. Gefördert wurde dies durch den Umstand, dass in den 70er-Jahren viele alte heruntergekommene Häuser freiwurden. Diese waren zuvor von italienischen Gastarbeitern bewohnt worden. Mit ihrer Entlassung in Folge der Krise von 1973 und ihrer erzwungenen Rückkehr nach Italien wurden viele Häuser frei. Sie liessen sich auf dem freien Markt nicht mehr einfach vermieten, woraufhin sie für WGs zur günstigen Wohngelegenheit wurden.
Die WG- und Hausbesetzer-Szene hat auch vielen kreativen Menschen einen Freiraum geboten, viele Personen aus der Szene, übernahmen später öffentliche Rollen in Kultur und Politik.
Eine der wichtigen Treffpunkte der Szene war die «Platte 27», sie war auch eine der ersten Discos in Zürich.
Gegenüber den früheren Wohnformen haben viele Menschen - darunter auch Franz Staffelbach - die Wohngemeinschaft als Befreiung erlebt. Dies insbesondere auch deshalb, weil in Wohngemeinschaften mit mehreren Mitbewohnern das Konkubinatsverbot umgangen werden konnte. In den Anfängen der WG-Bewegung wurden deshalb beispielsweise die Häuser der Studentischen Wohnkommission zu Orten der Befreiung und zur gefragten Alternative zum streng überwachten Wohnen bei einer Schlummermutter.
Weitere Dokumente sind via die Datenbank des Sozialarchivs auffindbar unter bild-video-ton.ch. Geeignete Stichwörter sind «Wohngemeinschaft» und «Hausbesetzung».
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Langsamverkehr ist in aller Munde...Momente der Geruhsamkeit in der Hektik des Alltags, beispielsweise bei der Fahrt mit der Standseilbahn vom Central zur Polyterrasse. UnsereGeschichte lädt ein zum Zeigen von Dokumenten zu solchen Momenten, beispielsweise in der Galerie https://unseregeschichte.ch/galleries/langsamverkehr.