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Aus dem Leben der        Verena Huter-Sidler                    1. Kindheit in             Adligenswil

1923
Christoph Huter

1.Adligenswil

Adligenswil bei Luzern war damals ein kleines Bauerndorf. Die Familie Sidler-Rogger wohnte dort bis ins Jahr 1929.

Ich wurde am 3. April 1923 in Adligenswil geboren. Adligenswil hatte damals eine Einwohnerzahl von 650 Personen. Mein Vater, Albert Sidler, und meine Mutter Berta, geborene Rogger, hatten zusammen 6 Kinder:

Albert genannt Bärti/Bärtu Jahrgang 1916

Josef genannt Seppi Jahrgang 1917

Berta genannt Berteli Jahrgang 1918

Xaver genannt Xaveri/Xäffu Jahrgang 1919

Kaspar genannt Chasper/Chäbu Jahrgang 1921

Verena genannt Vreneli Jahrgang 1923

Als ich geboren wurde, bewohnten wir ein kleines Häuschen, das unserem Nachbarn Lötscher J. gehörte. Lötschers hatten einen Bauernhof, sie hatten 4 Kinder. Das jüngste, Hedali, war im gleichen Alter wie ich, Chläusi war im gleichen Alter wie mein BruderChasper. Wir vier Kinder waren immer zusammen. Da wir noch zu klein waren, um auf dem Hof zu arbeiten, waren wir meistens uns selbst überlassen. Mein Vater arbeitete als Kupferschmied in der Stadt Luzern, meine Mutter half oft bei Lötschers mit, wenn auf den Feldern viel zu tun war.

Mein Vater stammte aus einer Bauern-Familie. Ich glaube, der Weiler, auf dem er aufwuchs, hiess s'Neuhüsli und gehörte zu Adligenswil. Der älteste Bruder meines Vaters übernahm den elterlichen Hof, welchen er in kurzer Zeit so hinunter wirtschaftete, dass er auf die Gant kam. (Dies nach Aussage meines Bruders Seppi). Als ich älter war, fragte ich meine Mutter oft, wie denn alles so gewesen sei, damals. Ob meine Grossmutter, also ihre Schwiegermutter, eine liebe Frau gewesen sei. Lieb, meinte sie dann, oh nein, das war sie wirklich nicht, sie sei furchtbar eitel gewesen, sie konnte keine Mägde oder Knechte behalten, das Essen sei miserabel und ihr Geiz überall bekannt gewesen. Aber vor allem war sie eben als eine überaus eitle Person bekannt. So habe sie denn lange Zeit vor dem Spiegel gestanden, bevor sie in die Kirche ging, und zwar sei dies nach verschiedenen Ritualen abgelaufen. Zum Beispiel habe sie die Demütige gespielt, die Augen niedergeschlagen, die Hände mit dem Messbuch in Brusthöhe gefaltet und den Kopf leicht zur Seite geneigt, oder dann in stolzer Pose, hoch erhobenen Hauptes, den Mund zugespitzt und immer wieder probiert, wie sie ihre Röcke am vorteilhaftesten raffen könnte. Dies alles erzählte mir meine Mutter, natürlich mit den bei ihr dazugehörenden Gesten. Ich wollte immer mehr erfahren, aber meine Mutter war keine sehr geduldige Frau und sagte dann wohl, ich solle aufhören zu fragen. Zudem genüge es, wenn man wisse, dass sie eine Entlebucherin gewesen sei, dies sage nun doch wirklich genug. Entlebucher waren für meine Mutter ein rotes Tuch. Ich wollte dann nur noch wissen, ob sie denn ihre Schwiegermutter selber beobachtet habe, wie diese vor dem Spiegel stand. Sie sagte: "natürlich nicht", aber gewesene Mägde hätten im Dorf ausführlich darüber erzählt, und damit ich nicht denke, die hätten gelogen, möchte sie mir doch noch über eine besondere Begebenheit berichten:

Meine Grossmutter habe eine Jungmagd eingestellt. Diese sei eben noch unerfahren gewesen und habe nicht gewusst, was sie kochen sollte, wenn die Meisterin zur Kirche ging. Also sei sie lange dort gestanden und habe zugeschaut, wie die "Frau" vor dem Spiegelstand: Manchmal streng aussehend und manchmal huldvoll lächelnd, da und dort an einer Rüsche zupfend oder den Hut in die wirkungsvollste Position bringend. Das junge Mägdlein fragte scheu: "Meischtere, was mues I choche?" Es wusste eben noch nicht, was es mit seiner Fragerei auslösen würde. Plötzlich habe sich dann die "Frau" umgewandt und die Kleine angeschrien: "Deich Bohne, du Donners schiesse Galöne, jetzt hesch merz'Muu wieder ganz verhörschet." Meine Mutter habe die Jungmagd weinend angetroffen, und diese habe ihr dann ihr Leid geklagt. Das ist alles, was ich über meine Grossmutterväterlicherseit s weiss. Ueber den Grossvater weiss ich gar nichts, ausser dass er recht unter dem Pantoffel war. Also gehen wir wieder zurück zu meinen Eltern und den Geschwistern.

Meine Eltern lernten sich kennen, als meine Mutter im Rössli, der einzigen Wirtschaft in Adligenswil, als Serviertochter arbeitete. Wenn ich den Schwestern meiner Mutter, also meinen Tanten, glauben darf, so war mein Vater sehr verliebt in meine Mutter. Er habe sie einfach nicht in Ruhe gelassen, und so habe sie dann sehr jung, ungefähr 20 Jahre alt, diesen Albert Sidler geheiratet. Meine Mutter war ein überaus schönes Mädchen und natürlich sehr intelligent (wie könnte es auch anders sein). Es wurde ja immer wieder betont, wie intelligent die Roggers seien! Ich habe ja alle meine Tanten gekannt bis auf Tante Vreneli, die sehr jung starb, bei der Geburt des ersten Kindes. Aber keine dieser Tanten sagte etwas Nettes über meinen Vater. Ich fragte einmal Tante Ottli (sie war einige Male bei mir in Stein am Rhein zwischen 1980 und 1990), warum eigentlich alle gegen meinen Vater waren? Sie dachte einen Moment nach und antwortete dann: "Ach, er war doch einfach ein total unfähiger Mensch, er sah lieber den Wolken nach als bei der Arbeit kräftig zuzupacken und überhaupt, wenn man bedenke, welche Chancen Deine Mutter gehabt hätte. Ich sah meinen Vater ganz anders, aber davon später.

Mein Bruder Albert wurde im Jahre 1917 geboren, etwa 1 1/2 Jahre später mein Bruder Seppi. Etwa im gleichen Abstand meine Schwester Berteli, dann ungefähr 1 Jahr später Xaver, danach mein Bruder Chasper 1921 und ich 1923. Ich weiss nicht, ob meine Mutter zwischen diesen Geburten eine Frühgeburt hatte, ich glaube, es war einmal so etwas. Natürlich wurde nie darüber gesprochen, auch nicht als ich erwachsen war und selber Kinder hatte.

Nach der Geburt meiner Schwester Berteli ging es meiner Mutter gesundheitlich sehr schlecht, sie hatte in kurzen Abständen 3 Kinder geboren und war wieder schwanger mit Xaver. Wie man mir viele Jahre später erzählte, muss es in dieser Zeit gewesen sein, als meine Grosseltern bei uns zu Besuch waren. Eine Schwester meiner Mutter, Annie, lebte bei den Eltern. Annie war ledig (sie heiratete sehr spät, etwa mit fünfzig Jahren), sie sorgte also für die Eltern und für meinen Onkel Kaspar, der auch ziemlich spät heiratete. Bei diesem Besuch sahen sie wohl die ganze Misere und schlugen meine Eltern vor, sie möchten Berteli gerne für einige Zeit mitnehmen. Sie würden Berteli bei sich behalten bis nach der Geburt des vierten Kindes, und wenn es meiner Mutter gesundheitlich besser gehe, würden sie die Kleine wieder nach Hause bringen. Ich vermute, dass meine Eltern dieses Angebot gerne annahmen, wussten sie doch, dass Berteli in guter Obhut sein würde. Finanziell hatten zu jener Zeit meine Grosseltern keine Sorgen mehr, Onkel Kaspar hatte längst fertig studiert und seinen Doktor (wie könnte es auch anders sein) mit Bravour bestanden. Dann kam das vierte Kind zur Welt, Xaver. Meiner Mutter ging es besser und sie schrieb an Annie, dass sie nun Berteli wieder zurück haben möchte. Ich weiss nicht mehr, ob es meine Grossmutter war oder mein Grossvater, ich weiss nur, dass eines der beiden sehr krank war und bald darauf starb. Tante Annie und Onkel Kaspar baten meine Eltern Berteli noch eine Weile bei ihnen zu lassen, die Kleine sei der Sonnenschein des noch lebenden Grosselternteils und es wäre herzlos, gerade jetzt auch noch Berteli wegzunehmen. Meine Eltern gaben nach. Mutter war bald wieder schwanger, mit dem fünften Kind, Kaspar. Leider weiss ich die Zeitspannen nicht, aber ich weiss, dass dann auch der zweite Grosselternteil starb, und dass es meiner Mutter nach der Geburt von Chasper wieder nicht gut ging. Trotz allem wollten sie nun ihr Kind zurückhaben.

Wie meine Mutter mir erzählte, kam Onkel Kaspar angereist, Annie sei in einem furcht-baren Zustand, oft befürchte er, sie schnappe noch über. Jetzt, nach dem Verlust der Eltern, sollte man Annie etwas Zeit lassen. Ich glaube nicht, dass Onkel Kaspar sehr an meiner Schwester hing, jedenfalls äusserte er sich viele Jahre später (er war schon weit über siebzig und einige Tage bei mir in Stein a. Rhein zu Besuch), Berteli sei zwar ein nettes Kind gewesen, Annie habe die Kleine vergöttert, er selber habe nicht viel anzufangen gewusst mit ihr. In der Schule sei Berteli so mittelmässig gewesen, auf jeden Fall habe die Kleine die Intelligenz der Roggers nicht geerbt. Ich fragte auch Onkel Kaspar, weshalb die Roggers eigentlich meinen Vater mehr oder weniger abgelehnt hätten. Wäre er dumm gewesen, hätte ich es einigermassen begriffen, denn dumm sein, das hatte ich längst gemerkt, war für die Roggers so etwas wie eine Sünde. Auf meine Frage also gab er mir zur Antwort: "Nun, ich habe eigentlich im Grunde genommen nichts gegen Deinen Vater gehabt, aber auch nichts für ihn, und überhaupt reden wir doch von etwas anderem. Dein Vater war mir nie so wichtig, dass ich finde, eine Diskussion über ihn sei interessant. «Aber nun zurück nach Adligenswil. Berteli blieb also weiterhin bei Tante Annie und Onkel Kaspar. (Mein Vater nannte sie immer die verrückte Annie). Nun hatte also meine Mutter 5 Kinder innert 6 Jahren. Mein Bruder Seppi erzählte mir auch, er sei einmal für längere Zeit von zu Hause weggewesen bei einer Schwester meines Vaters, welche keine Kinder hatte. Seppi kränkelte längere Zeit, die Tante wohnte in der Nachbar-Gemeinde, sie liebte Kinder sehr und Seppi erzählte, er habe es dort sehr schön gehabt. Trotzdem hatte er meiner Mutter aber nie verziehen, dass sie ihn ein halbes Jahr weggab. Auch meine Brüder, Xaver und Kaspar, vertraten die Meinung: "Keine gute Mutter würde ihr Kind weggeben". Für meinen Bruder Bärti jedoch war meine Mutter das Höchste und Beste. Die beiden liebten sich gegenseitig, alles was meine Mutter machte, war in den Augen meines Bruders richtig. Er war Mutters Lieblingskind und später, als ich erwachsen war, konnte ich das sehr gut verstehen. Er war wirklich ein liebevoller Sohn, auch als erwachsener Mann schrieb er ihr regelmässig lange Briefe. Seine Liebe gab ihr sicher viel Lebensmut.

Immer wieder schweife ich ab, dabei möchte ich doch wirklich über unser Leben in Adligenswil erzählen. Meine Schwester Berteli kam, wie man mir erzählte, hie und da ein paar Tage zu uns in die Ferien, zwar ungern, was ich begriff. Sie lebte in einem sehr geordneten Haushalt, meine Brüder flössten ihr sicher Angst ein. Es war alles eng und primitiv bei uns, da gab es keinen schön gedeckten Tisch, kein eigenes Zimmer und eine Tante Annie, die sie wie eine Glucke behütete. Ich kann mich an meine Schwester überhaupt nicht erinnern, ich war noch zu klein. ich weiss nur von meiner Mutter, dass sie jedesmal froh war, wenn sie zurück konnte zu Annie. Mir hat sich vieles eingeprägt von Adligenswil. Ich frage mich oft, warum ich von Adligenswil viel mehr weiss als z.B. von Tann-Rüti wo wir wohnten als ich etwa 10 Jahre alt war. Ich erinnere mich immer wieder gerne daran, wie schön es z.B. im Winter war. Wir hatten nur eine kleine Stube, aber es war dort immer so schön warm. Wir Kinder drückten unsere Nasen an die kleinen Scheiben und schauten dem Tanzen der Schneeflocken zu. Das waren die wunderbaren Stunden, in denen uns Mutter Märchen erzählte. Als ob sie es wüssten, ging es nicht lange, und unsere Nachbar-Kinder klopften an die Türe und riefen: "Mutter Sidler, dürfen wir auch zu Dir kommen?
«Sie durften immer. Unsere Mutter konnte Märchen erzählen wie wohl kaum jemand, sie erfand immer wieder neue, meistens sehr traurige, und wenn es dann schien, als ob es nun gar keine Rettung mehr gäbe und z.B. die armen Kinder verhungern und erfrieren müssten, heulten wir alle (Mutter inbegriffen). Uns liefen die Schnudernasen, und wir schluchzten über das Elend in dieser Welt. Mutter zog dann ihr Nastuch aus der Schürzentasche, und wir mussten alle der Reihe nach hineinschneuzen, die Nachbarkinder wischten sich die Nase an den Ärmeln ab. Das taten sie immer (wir beneideten sie darum), aber bei uns gab es das nicht. Immer wieder erklärte uns unsere Mutter, Kinder aus gutem Hause dürften das nicht tun. Als ich sie dann einmal fragte, ob die Lötschers nicht aus gutem Hause seien, sagte sie: "O doch natürlich schon, nur eben, also," aber dann wurde sie ungeduldig (das wurde sie schnell). Wenn ich älter sei, werde sie mir das erklären. Natürlich sorgte unsere Mutter immer für ein Happy-End, wie man heute sagt. Jedes Märchen endete damit, dass alle, ob Mensch oder Tier, ein Zuhause hatten, niemand musste hungern, niemand musste frieren, alle waren glücklich, und die Welt war wieder in Ordnung. Jeder Mensch sollte etwas von seinem Kinderglauben hinüber retten können in seine Erwachsenen-Welt. Ich glaube, dann wäre die Hälfte der Psychiater arbeitslos.

Bisquits

Ich glaube, es geschah im Sommer 1928. Mein Bruder Chasper ging zur ersten Klasse. Unsere Nachbarn, die Lötschers, hatten viel zu tun mit Heuen, meine Mutter half tüchtig mit, auch meine Brüder und die älteren Kinder des Bauern. Wir vier, also Chläusi, Hedali, Chasper und ich blieben zu Hause, unsere Mutter ermahnte uns nicht zu streiten, nicht vom Haus fortzulaufen, nicht zu lange in der Sonne zu stehen, usw. Wir versprachen natürlich alles, aber eben. Ich glaube, es war mein Bruder, der den Vorschlag machte, wir könnten doch mal auf die "Bühni" gehen. Das war einfach ein grosser Raum, in dem lauter Geräte herum standen, mehr Gerümpel als etwas anderes. Eigentlich war es uns verboten, auf die Bühni zu gehen, wahrscheinlich weil dort ausrangierte Sensen, rostige Nägel und kaputte Mist-Gabeln herumlagen. Als wir dann nichts Interessantes fanden und wieder weggehen wollten, entdeckte mein Bruder etwas. Auf einem langen Brett, das ziemlich hoch oben an der Wand befestigt war, lagen Büchsen und Schachteln. Mein Bruder aber sah einen Papiersack und fragte Chläusi, was da wohl drin sein könnte. Der wusste es auch nicht. Also nahm mein Bruder einen langen Stecken, an dem ein Haken befestigt war (dieser diente zum Obstschütteln), und es gelang ihm, den Papiersack zu fassen und nach unten zu ziehen. Als er auf den Boden fiel, zerplatzte er - und welch ein Wunder - es rollten lauter etwa Fünflieber grosse Bisquits heraus. An Weihnachten bekamen wir manchmal von Gotten oder Göttis eine Rolle dieser Kostbarkeiten, und so konnten wir fast nicht glauben, was uns Gutes geschah, und dies mitten im Sommer. Wir alle wollten uns darauf stürzen, aber Chasper legte seine Hände darauf und sagte: "Ich habe sie gefunden und werde sie verteilen". Er nahm den Löwen-Anteil, ich glaube es waren acht, Chläusi bekam sechs und Hedali und ich je vier. Die Anzahl der Bisquits war auf dem Sack vermerkt, wir konnten aber noch nicht lesen, fanden aber später heraus, wie viele jedes Kind gegessen hatte. Ich glaube nicht, dass die Bisquits gut waren, aber sie waren sicher süsslich, und wir fanden sie wunderbar.
Inzwischen kamen alle vom Heuen nach Hause. Da wurde dann ausgiebig z'Vieri gegessen. Immer wenn meine Mutter bei Lötschers mithalf, durften auch wir Kinder dort essen. Es gab meistens selbstgebackenes Brot, Käse, Speck und Most. Natürlich waren wir nicht mehr auf der Bühni, als die Heuer nach Hause kamen, und als der z'Vieri parat war, riefen sie uns zum Essen. Es führte eine steile Holz-Treppe ins Haus der Lötschers, dann kam man in einen Gang und von dort in die Küche. Alle assen mit gesundem Appetit, nur wir vier Kinder hatten keinen Hunger. Mutter Lötscher fand, wir seien blass, und meine Mutter fragte, ob wir etwa wieder "Suurampfele" gegessen hätten. Mit gutem Gewissen sagten wir "nein". Da sassen wir also an dem langen Tisch, und plötzlich erbrach sich eines von uns (ich weiss nicht mehr wer es war), bevor es Zeit hatte, vom Tisch weg zu gehen. Dann würgte ein anderes im Gang draussen, und die restlichen zwei bogen sich übers Geländer der Aussen-Treppe. Nun fing natürlich ein Verhör an: Was habt ihr getrunken, was habt ihr gegessen? War jemand hier oder seid ihr bei jemand anderem gewesen? Ich glaube, wir schwiegen lange standhaft, hatten wir doch Angst, weil wir auf der Bühni gewesen waren. Nach langem Fragen hätten wir dann erzählt, dass wir Bisquits gegessen hätten. Darüber waren nun alle erstaunt. Mutter Lötscher habe gesagt, sie hätten doch gar keine Biquits im Haus, dann habe sie meine Mutter gefragt: "Berta, hast Du vielleicht Bisquits zu Hause?" Meine Mutter gab zur Antwort, "Wo denkst Du nur hin, wir und Bisquits wo doch gar kein Feiertag ist." Also, wo hattet ihr die Bisquits her? Wir haben sie gefunden. Wo gefunden? Auf der Bühni. Wieder konnte das niemand verstehen. Ich glaube, das war das letzte, was wir mitbekamen. Nun muss ich mich auf die Aussagen der Erwachsenen verlassen. X mal wurde uns später der ganze Hergang erzählt. Also, Vater Lötscher habe sich plötzlich an den Kopf geschlagen und dann laut geschrien: "Die Cheibe händ sicher d'Rosspille gfrässe". Meine Mutter habe gefragt, ob diese denn giftig seien. Er habe geantwortet, das wisse er nicht. Er wisse nur, wenn ein Ross die Völli habe, gebe man diesem diese Pillen, jedoch nicht mehr als zwei, sonst verrecke es. Es muss dann alles ziemlich schnell gegangen sein, es kamen ein Arzt aus Ebikon und einer aus der Stadt Luzern, man gab unserem Vater Bescheid, dass er sofort nach Hause kommen müsse. Damit die Ärzte nicht von einem Haus zum anderen rennen mussten, wurden Chasper und ich zu Lötschers gebracht, in ein Zimmer mit 2 Betten, in einem lagen die beiden Buben und im andern wir zwei Mädchen. Sie legten uns so, dass ein Kind seinen Kopf an der Kopfete hatte, das andere den seinen an der Fussete. Vor jedes Bett wurde ein grosser Holz-Zuber mit Wasser gestellt. Dann wurde jedem Kind ein Schlauch in den Schlund geschoben und damit begonnen, unsere Mägen auszupumpen. Dann hätten die beiden Ärzte gesagt, es dürfe keine Zeit verloren gehen, man solle uns sofort auf Leiterwagen packen und mit uns herumrennen, und zwar nicht zimperlich, sondern möglichst über Stock und Stein, Raine hinauf und herunter und uns ja nicht einschlafen lassen, denn dann würden wir kaum wieder erwachen. Im Dorf hatte sich das Geschehnis natürlich schnell verbreitet. Bauern, Knechte, junge Burschen seien zu Hilfe geeilt, und das sei nötig gewesen. Da sie so rennen mussten, war es gut, dass immer eine Ablösung da war, wenn jemand ausgepumpt ankam. Die Aerzte hätten die Leute immer wieder angespornt: "Lasst die Kinder ja nicht einschlafen, schlägt sie ins Gesicht und reisst sie an den Haaren, wenn sie einschlafen wollen". Ich weiss nicht, wie lange diese Prozedur gedauert hatte, es muss schlimm gewesen sein für alle Beteiligten. Meine Mutter sagte Jahre später, sie werde den Anblick wohl nie vergessen, unsere Köpfe seien kraftlos über den Leiterwagen-Rand gehangen, und es hätte niemanden gewundert wenn sie plötzlich abgefallen wären. Natürlich war auch der Dorfpfarrer aufgeboten worden, und die beiden Ärzte hätten diesen zur Seite genommen und sehr ernst mit ihm gesprochen. Erst viel später hätten sie dann vernommen, dass die Ärzte dem Herrn Pfarrer sagten, er solle sich darauf vorbereiten, dass es eventuell 4 Leichen geben könne. Nun, es gab keine Leichen, langsam erholten wir uns wieder. Bei Chläusi ging es etwas länger, bei Chasper sehr lange, dieser sei nach Wochen noch wie besoffen herumgelaufen. Der Arzt aus Ebikon sei immer wieder einmal vorbeigekommen. Meine Mutter erzählte, dieser Arzt habe auch mit Vater und ihr ein längeres Gespräch geführt. Er habe viel darüber gelesen welche Auswirkungen es haben könnte, wenn Kinder in diesem Alter solche Mengen Gift eingenommen hätten, auch habe er mit einem Kollegen, der Gift-Experte war, gesprochen und wisse nun einiges mehr darüber. Er glaube nicht, dass man damit rechnen müsse, dass eines der Kinder einen Schaden davon trage, mit Ausnahme von Chasper. Meine Mutter, die immer sehr hellhörig war, wollte wissen, ob er damit meine, Chasper könnte unter Umständen nicht mehr normal sein. Der Arzt verneinte dies, aber er würde meinen Eltern raten, den Kleinen die erste Klasse wiederholen zu lassen, das Lernen werde ihm schwer fallen, auch könnte es sein, dass er Gelerntes schnell wieder vergesse, es werde viel Geduld brauchen. Als meine Mutter mir Jahre später von diesem Gespräch erzählte, weinte sie sehr. Weisst Du, Vreneli, ich hatte mir so fest vorgenommen, mit Chasper viel Geduld zu haben, aber ich brachte es einfach nicht fertig. Dies war der letzte Sommer, den wir in Adligenswil verbrachten. Im Frühling darauf zogen wir fort nach Nieder-Uster. Ich kann mich gut erinnern, Chasper und ich standen auf dem Zügelwagen, und als dieser wegfuhr, rannten Chläusi und Hedali hinterher, sie riefen immer wieder unsere Namen. Sie weinten und schrien, wir schrien zurück, ich glaube, wir weinten den ganzen langen Weg bis wir in Nieder-Uster ankamen. Das war sicher der erste grosse Schmerz in unserem jungen Leben. Unser Bruder Albert blieb in Adligenswil zurück, bei wem weiss ich nicht mehr. Er sollte dort sein letztes Schuljahr beenden und erst dann nach Nieder-Uster kommen. So war es dann auch. Ob Seppi und Xaver auch so litten, weiss ich nicht, sie waren doch ein paar Jahre älter, und ihr Leiden war vielleicht nicht das gleiche wie das unsere.

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Christoph Huter
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21 August 2024
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