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Aus dem Leben der Verena Huter-Sidler     2. Kindheit in Niederuster

1929
Christoph Huter

2. Nieder-Uster ZH / Restaurant Schiff

ca. 1929 - 1933

Unser Haus, das Restaurant zum Schiff und der Bauernhof, lag nur ein paar Minuten von Greifensee entfernt. (Haus und Hof sind vor mehreren Jahren abgebrannt). Wir hatten eine grosse Garten-Wirtschaft. Alte, grosse Bäume sorgten für Schatten, und in der heissen Jahreszeit hatten wir viele Gäste, die vom Baden kamen. Auch von Fischern wurde unser Restaurant gerne besucht. Meine Brüder erzählten später oft: Wir hatten den schönsten Bauernhof, am meisten Kühe im Stall und brachten so viel Milch in die Hütte wie kein an derer Bauer. Dass wir diesen Hof kaufen konnten, dazu verhalf uns J.H. aus Adligenswil. Er war damals, wie meine Mutter sagte, der reichste Mann in Adligenswil. Er hielt sehr viel von meiner Mutter, er kannte sie als eine fleissige, intelligente Frau, sein Vertrauen galt bestimmt mehr meiner Mutter als meinem Vater. Nieder-Uster war sicher für uns alle etwas total Neues. Meine Brüder, Seppi und Xaver machten dort als Kinder bittere Erfahrungen. Oft erzählten sie, wie verschieden sie sich ausnahmen zu den anderen Kindern. So trugen sie z.B. Hosen bis fast Mitte Waden, im Winter Holzschuhe, was in Nieder-Uster schon damals kein Kind mehr trug, und sie rochen nach Stall und Kühen. Mein Bruder Bärti war ja noch in Adligenswil, und so verlangte mein Vater von Seppi und Xaver, dass sie im Stall mithalfen, bevor sie in die Schule gingen. In Adligenswil wäre das ganz normal gewesen, andere Buben in diesem Alter hätten auch nicht besser gerochen, und was die Kleider anbelangt, wäre kein Unterschied da gewesen. Nur waren wir eben nicht mehr in Adligenswil. Uster hatte schon damals viel Industrie, der grösste Teil der Einwohner ging in irgend einer Fabrik arbeiten, es war alles, alles ganz anders als in Adligenswil. Der Luzerner-Dialekt half meinen Brüdern auch nicht gerade Anschluss zu finden. Sie wurden ausgelacht wie das eben bei Kindern oft der Fall ist. Meine Brüder erzählten mir später, niemand habe mit ihnen in der gleichen Bank sitzen wollen, weil sie stanken. Seppi und Xaver waren gute Schüler, Seppi kam mühelos in die Sekundar-Schule, später auch Xaver.

Beide Brüder haben die Sekundarschule frühzeitig verlassen. Wie ich aus ihren Erzählungen weiss, hielten sie es einfach nicht mehr aus. Seppi ging, das wurde schon vorher abgemacht, zurück nach Adligenswil. Dort ging er in die Lehre als Huf und Wagenschmied, sein Lehr-Meister war J.H., also unser Geldgeber. Bärti kam nach Beendigung seiner Schulzeit zu uns nach Hause, er arbeitete mit unserem Vater zusammen auf dem Hof. Als Xaver aus der Schule lief, fand er eine Lehrstelle als Konditor in Luzern. Nicht dass er diesen Beruf gewollt hätte, er wurde gar nicht gefragt. Wie das so üblich war, schickte er alle paar Wochen seine schmutzige Wäsche nach Hause. Erst als dann ungefähr 2 Monate nichts kam, wurde meine Mutter unruhig. Sie habe dann bei den Meistersleuten angefragt, was mit Xaver los sei, er habe schon lange nichts mehr von sich hören lassen. Die Benggers, so hiessen die Meistersleute, waren sehr überrascht. Xaver sei schon vor ca. 6 Wochen weggegangen, nach Hause, wie er sagte. Meine Mutter habe gefragt, ob denn etwas vorgefallen sei, aber Herr Benggers Antwort sei gewesen, nein gar nichts. Xaver habe seinen Binsenkorb fertig gepackt in der Hand gehalten, kurz und bündig habe er erklärt, dieser Beruf sei nichts für ihn, er gehe, und so sei er dann auch wirklich gegangen. Mutter erzählte uns später (damals erfuhren Chasper und ich nichts), sie habe Angst gehabt und sich sehr aufgeregt. Wir fragten, ob man denn nichts unternommen habe, um ihn zu finden. Nein, das hatte man nicht. Vater habe das ganz gelassen aufgenommen, sein ganzer Kommentar sei gewesen: Der kommt schon wieder, spätestens wenn er Hunger hat. Viel später kam dann eine Postkarte: "Bin hier in Stellung, mir geht es gut, Gruss Xaver".

Nun zurück zur ersten Zeit in Nieder-Uster. Für meinen Bruder Chasper und mich war es bestimmt nicht so schlimm. Wir konnten uns langsam an die neue Situation gewöhnen. Chasper bis zum kommenden Frühling. Er wiederholte die erste Klasse, von der er ja einen grossen Teil versäumt hatte durch den "Genuss der Rosspillen". Ich kam ein Jahr nach Chasper in die erste Klasse. Hie und da kamen ein paar Kinder vorbei, die neugierig vor unserem Haus stehen blieben. Wir fingen an mit ihnen zu reden. Wahrscheinlich machten wir das nicht sehr geschickt, denn sie tuschelten nur zusammen und lachten. Chasper sagte leise etwas zu mir, und wir hiessen die Kinder warten. Chasper und ich rannten ins Schlafzimmer unserer Eltern. Dort stand auf der Kommode eine kleine Papierschachtel, mit lauter 5er, 10er, 20er und einige 50 Rappen-Stücken. Chasper sagte, komm wir werfen ihnen von diesem Geld hinunter, dann werden sie uns gern haben und nicht mehr auslachen. Als dann aus dem Zimmer-Fenster Geld geflogen kam, stürzten sich die Kinder lachend oder auch streitend darauf. Erna, unsere Servier-Tochter, hörte in der Gaststube den Lärm, sie schaltete schnell, lief hinaus zu den Kindern und schrie diese an, sie müssten das Geld sofort zurückgeben. Aber die rannten davon, so schnell sie konnten. Erna erwischte keines von ihnen. Sie klaubte die restlichen paar Batzen zusammen und sah wütend zum Zimmer Fenster hinauf. Natürlich lief sie sofort zu unserer Mutter. Es geschah aber nicht viel. Mutter versuchte uns zu erklären, wie sie dieses Münz mühsam zusammengespart habe, damit immer Kleingeld für Erna im Hause sei. Nie mehr, das erwartete sie von uns, dürften wir so etwas tun. Ich glaube, es war das erste und letzte Mal, dass mein Bruder und ich das Geld buchstäblich zum Fenster hinauswarfen.

Mutter wusste sicher um unsere Einsamkeit und unser Heimweh nach Adligenswil. Für Seppi und Xaver war es sicher nicht leicht. Sie hatten zwar beide keine Schwierigkeiten in der Schule in Nieder-Uster mitzukommen. Sie waren beide intelligente Buben, aber sie wurden von den andern Kindern ausgelacht wegen ihrer bäuerlichen Kleidung, dem Luzernerdialekt und dem Stallgeruch, da sie vor der Schule die Kühe füttern, deren Schwänze aufbinden und sonst allerlei Arbeiten verrichten mussten. Sie beklagten sich zu Hause, dass sie die einzigen seien in Holzböden-Schuhen und wadenlangen Hosen und nach Kuhmist rochen. Meine Mutter versuchte dies zu ändern, aber mein Vater hatte überhaupt kein Verständnis für ihre Nöte, sein Kommentar war: Er habe schon mit 5 Jahren im Stall mithelfen müssen, und wer essen will, muss arbeiten, basta. Ich war noch zu klein um mitzubekommen, wie schwer es meine Brüder hatten. Aber als sie 50 oder 60 Jahre alt waren, erzählten sie es immer wieder. Sie hassten ihren Vater und haben ihm ihr ganzes Leben lang nicht verziehen.

Ich liebte meinen Vater und er liebte mich, ich kann mich nicht erinnern, je ein böses Wort von ihm bekommen zu haben, geschlagen hat er mich ein einziges Mal, und da hatte ich es verdient. Wir hatten in Nieder-Uster eine grosse Küche. Dort spielte sich eigentlich unser ganzes Leben ab, dort wurde gegessen, wir machten unsere Schulaufgaben, zankten uns oder spielten und lasen, usw. Im Winter war es immer schön warm, es war der einzige Raum, der beheizt wurde, da stand ein grosser Holz-Herd, auf dem immer etwas brodelte. In der Wirtschaft gab es einen Kachelofen. Er wurde auch von der Küche aus beheizt mit selbst gemachten Burdeli. Ich kann mich noch gut an die Küche in Nieder-Uster erinnern. z.B. wenn geschlachtet wurde. Da gab es riesige Mengen von Fleisch, welche zu Braten Stücken oder Voressen geschnitten, Speck und Würste die in die eigene Rauchkammer gebracht wurden, grosse Töpfe, in denen Fett ausgelassen und später zum Anbraten von Fleisch, Rösti und vielem anderem verwendet wurde. Zur Fasnachtszeit war es besonders schön. Da schauten wir zu, wie unsere Mutter und Erna, unsere Serviertochter, (die übrigens etwa 4 Jahre bei uns blieb) in grossen Wannen Teig bearbeiteten, diesen dann auswallten und von Hand zu ganz dünnen, etwa Tellergrossen Chüchli auszogen. Diese wurden dann gebacken, mit Zucker bestreut und fein säuberlich in Wäsche-Zainen gelegt, eins aufs andere, ganze Berge. Diese Zainen wurden hinaufgetragen in die Stube, die nie benutzt und von uns auch nicht vermisst wurde. Unser Leben spielte sich ja in der Küche ab. Dann kamen die Schenkeli an die Reihe. Hier durften wir mithelfen. Diese wurden in Holz oder Obst-Körbe verstaut, es war ein wunderbarer Anblick. Ich bin froh, dass mir die se Zeiten in Erinnerung geblieben sind, denn ich glaube, es waren gerade diese eigentlich kleinen Dinge, die mich davor bewahrten, später, als alles anders wurde, vergrämt zu werden oder in Selbstmitleid zu zerfliessen. Die ersten Jahre in Nieder-Uster waren schöne Jahre für mich, ich denke gerne an diese Zeit zurück.

Dann wurde es Frühling. Mein Bruder Bärti hatte die Primar-Schule in Adligenswil beendet und kam zu uns nach Nieder-Uster zurück, um auf dem Hof mitzuhelfen. Seppi und Xaver gingen noch in Nieder-Uster zur Schule, Seppi das letzte Jahr, dann ging er nach Uster in die Sekundar-Schule, und für Chasper begann das erste Schuljahr. Mutter hielt ihn oft dazu an, seinen Schul-Tornister, Tafel und Griffel, was er ja alles hatte von Adligenswil her, hervorzu-holen, aber Chasper konnte sich nur an weniges erinnern. Das wenige, das er gelernt hatte, war vergessen. Natürlich konnte er zählen, aber es machte ihm grosse Mühe. So überhüpfte er immer wieder Zahlen z.B. 22, 23, 24, 26, 29 usw. Er hatte ein Buch mit dem ABC, er malte zwar Buchstaben auf die Tafel, aber an die Reihenfolge konnte er sich nicht mehr erinnern. Mutter nahm sich bestimmt vor, Geduld zu haben mit meinem Bruder, sie setzte sich an den Tisch und sagte etwa: "So, Chasper, jetzt nehmen wir uns also das ABC vor, fang mal an bis zum "K". Manchmal ging das ganz ordentlich, oft kam er zwei bis dreimal ohne Fehler durch, doch plötzlich purzelten ihm die Buchstaben wirr durcheinander. Mutter er mahnte ihn dann: "Du musst denken, Chasper, nicht einfach drauflosplappern". Also fing er wieder von vorne an. So ging das oft lange Zeit. Ich merkte sehr schnell, wenn Mutter am Rande der Geduld angelangt war, sie fing dann an die Hände zu kneten und schrie ihn an: "Du Düppu, Düppu, Doppu-Düppu", dann legte sie die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Chasper liefen die Tränen die Wangen hinunter, und ich flennte auch heftig mit, weil mir die beiden so leid taten. Wenn sich Mutter wieder etwas gefasst hatte, wischte sie uns die Tränen ab und zu Chasper sagte sie: "Lassen wir es für heute sein, vielleicht geht es morgen besser". Diese Episoden wiederholten sich immer wieder. Chasper fiel das Lernen schwer und meiner Mutter, Geduld zu haben, noch schwerer. Mein Bruder wurde nie ein guter Schüler, aber er schaffte es doch, ohne "Sitzenbleiben" die Primarschule zu beenden.

Dann kam der erste Sommer in Nieder-Uster. Bei schönem Wetter herrschte viel Betrieb bei uns. Leute, die zum Baden gingen oder aber vom Baden kamen, kehrten bei uns ein. Es war schön in unserer Garten-Wirtschaft zu sitzen, wo grosse Bäume Schatten spendeten, wo man etwas Kühles trinken oder den Hunger stillen konnte mit feinem Schinken, Speck oder Bauern-Würsten. An solchen Sonntagen mussten Chasper und ich tüchtig mithelfen. Erna, die Serviertocher, brachte uns massenhaft schmutzige Gläser. Chasper musste diese abwaschen, ich trockenreiben. Zwischendurch galt es, den Grammophon aufzuziehen und Platten aufzulegen. Wir besassen nicht viele. Wenn diese abgelaufen waren, fing man einfach wieder von vorne an. Alle Schönwetter-Sonntage verliefen etwa gleich, und ich kann mich nicht erinnern, darüber unglücklich gewesen zu sein, wir wussten einfach nichts anderes. Die Samstage hatten es auch in sich. Von der Garten-Wirtschaft aus führte eine Treppe zur Küche, und an Samstagen wurden sämtliche schmutzigen Schuhe auf dieser Treppe deponiert, und zwar auf jedem Tritt mindestens 3 Paar. Stallschuhe, Nagelschuhe, Holzböden und Sonntagsschuhe von ca. 8-9 Personen. Das war nun Chaspers und meine Aufgabe, sie alle zu putzen. Arbeitsschuhe wurden mit einem übelriechenden Fett bearbeitet, die andern (alles schwarze) mit Schuhwichse behandelt und dann glänzend gerieben. Ich war nach getaner Arbeit immer sehr stolz und wollte, dass Mutter und Erna sich unser Werk ansahen. Die beiden rühmten uns dann auch gebührlich, und manchmal bekamen wir ein Guetzli.

Übergriff

Es war an einem Sonntag-Vormittag, als etwas Besonderes passierte. Wie gesagt, kehrten oft Fischer bei uns ein, so auch an diesem Sonntag. Ich hatte dafür zu sorgen, dass die Hühner Gras und Wasser bekamen, also füllte ich einen Korb mit Löwenzahn. Als ich zum Hühnerhof zurück kam, stand dort ein Fischer. Er fragte mich, ob er wohl im Hühnerhof nach Würmern suchen dürfe. Also kam er mit mir, und ich hob eifrig Steine hoch und freute mich, wenn unter diesen grosse, fette Würmer hervorkamen. Er hatte eine Büchse bei sich und legte die Würmer in diese hinein. Immer wieder rief ich ihm freudig zu: "Kommen Sie schnell, da hat es auch noch". Ich war sehr stolz, ihm behilflich sein zu können und auch darauf, dass wir so viele Würmer hatten. Der Fischer schien aber meinen Eifer nicht zu teilen, er sah sich ein paar Mal um, dann ging er in die Hocke und sagte, ich solle doch mal herkommen. Er hob mich auf seine Knie und sagte: Du bist ein sehr liebes, hübsches Mädchen. Das freute mich natürlich. Dann griff er mir zwischen die Beine und fummelte da herum. Was mich am meisten erschreckte, war, dass er plötzlich stöhnte. Irgend ein Warnsignal schien in meinem Kopf aufzuleuchten, ich riss mich los, schrie lauthals, rannte aus dem Hühnerstall durch die Garten-Wirtschaft, die Treppe hinauf und stürzte in die Küche. Da es bald z'Mittag gab, war die ganze Familie in der Küche. Vater, Mutter und Erna fragten, was denn los sei, aber ich schrie, schluchzte drauf los und konnte gar nicht sprechen. Es war mein Vater, der es fertig brachte, mich ein wenig zu beruhigen. So erzählte ich scheinbar völlig zusammenhanglos: Ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld, es war der Fischer, er hat mich dreckig gemacht, mir graust. Dann hob ich den Rock hoch und zerrte an meinen Höschen. Mein Vater war ein jähzorniger Mensch, aber so wie an jenem Sonntag habe ich ihn nie erlebt. Er war wohl auch der Erste, der erfasste, was passiert war. Er schrie laut auf: "Dä Sauhund, dä verdammt, ich schlage ihn tot, ich schlage ihn tot" und er stürmte zur Küchentüre hinaus. Meine Mutter klammerte sich an sein Hemd, auch sie schrie nun: "Nein, bitte nein, Du machst uns alle unglücklich, Du kommst ins Zuchthaus". Aber mein Vater funkelte sie wütend an und riss sich los. Wir hörten ihn die Treppe hinunterpoltern, in der Küche war es totenstill. Meine Mutter hob den Vorhang ein wenig an, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schrie "o Gott, o Gott, er hat die Axt mitgenommen". Auf dem Weg zum Hühnerhof stand ein Seheiterbock, auf dem immer eine Axt eingeschlagen war, um Kleinholz für die Küche zu machen. Als ich hörte, Vater habe die Axt mitgenommen, trieb meine Phantasie wilde Blüten. Wenn mein Vater Hühner schlachtete, hob er diese an den Beinen hoch, legte den Kopf des Huhns auf den Seheiterbock und liess die Axt niedersausen. Nun stellte ich mir vor, dass es dem Fischer genau so ergehen würde. Schon sah ich dessen Kopf davon rollen, und da tat er mir trotz allem leid. Dann hörten wir Vater zurückkommen. Er war noch immer wütend, fluchte und schrie in einem fort: er habe den verdammten Halunken nicht gefunden. Da sagte Xaver, der habe sicher ein Velo gehabt, er habe gesehen, dass ein solches angelehnt war am Hag. Während der Zeit, als mein Vater auf der Suche nach dem Fischer war, hatte sich meine Mutter meiner angenommen. Sie nahm mich bei der Hand, und wir gingen hinauf ins Schlafzimmer meiner Eltern. Sie stellte eine Menge Fragen an mich, die ich kaum verstand. Sie hiess mich aufs Bett zu liegen und zog mir das Höschen aus. Da fing ich wieder an loszuheulen, und sie fragte warum ich dies tue. Ich gab zur Antwort: "Er hat mir mit seinen dreckigen Wurm-Fingern zwischen die Beine gegriffen und mir graust so sehr". Mutter tröstete mich, wusch mich gründlich und gab mir ein sauberes Höschen. Sie sah sich alles gründlich an und schien irgendwie erleichtert zu sein, als ich ihr erzählte, ich sei sofort losgerannt und wie. Als wir zurück in die Küche kamen, war es noch immer sehr still. Meine älteren Brüder sahen mich irgendwie erstaunt an, sie merkten wohl erstmals, dass ihre Schwester ein weibliches Wesen war, wenn auch ein uninteressantes, aber immerhin. Ich war wohl die einzige, die überhaupt nicht wusste, um was es ging. Erna schlug immer wieder die Hände über dem Kopf zusammen, wobei sie jedesmal wiederholte: Es hat einen Schutzengel gehabt. Als dann Vater zurück kam, tuschelte er lange mit meiner Mutter. Er fragte immer wieder, und als Erna gar ihren Spruch vom Schutzengel herunterleierte, fuhr er sie zornig an: (das tat er sonst nie) "Willst Du wohl aufhören mit Deinem dummen Geplärr, es war nicht der Schutzengel, es war ihr Instinkt und nichts anderes, der die Kleine davon-rennen lies". Es war spät geworden und Zeit, endlich an den Tisch zu sitzen um zu essen. Oft machte mein Vater am Sonntag-Abend einen Spaziergang den Feldern entlang. Hie und da durfte ich mitgehen, wollte er aber allein sein, konnte selbst ich ihn nicht umstimmen. An diesem Sonntag-Abend aber sagte er zu mir: "Willst Du mitkommen und mit mir ein wenig durch die Felder bummeln". Das tat ich sehr gern. Es roch so gut nach Heu und Blumen, verspätete Sommervögel gauckelten durch die Gegend und die Grillen zirpten drauf los, als ob es verboten würde. Da setzten wir uns irgendwo auf die sonnenwarme Erde und lauschten dem Gezwitscher der vielen Vögel zu. Vater räusperte sich einige Male, das tat er oft, wenn er über etwas nachdachte, dann sah er mich an und fragte: "Hast Du vielleicht noch immer Angst"? Ich antwortete: "Wovor sollte ich denn Angst haben"? Er: "Nun weisst Du ich möchte wissen, wegen heute Morgen, ob Du noch immer Angst hast wegen dem Fischer". "Aber Vater", antwortete ich, "ich hatte doch gar nicht so Angst wegen dem Fischer". Mein Vater sah mich erstaunt an: "warum hast Du denn so geschrien und bist gerannt"? Ich: "Weisst Du, ich hatte am meisten Angst, weil ich dachte, der liebe Gott habe es vielleicht nicht gesehen, aber ich war doch gar nicht schuld und ich wollte doch nicht, dass die Englein nun weinen müssen wegen mir und so". Mein Vater gab sich viel Mühe aus meinem Kauderwelsch etwas zu machen, er ermahnte mich, ganz ruhig und schön der Reihe nach zu erzählen. "Also weisst Du, Vater, Kinder dürfen sich nicht zwischen die Beine greifen und dort spielen, davon kann man nämlich sehr krank werden, oder die Finger fangen an zu stinken, und wenn die Englein im Himmel das sehen, dann sind sie sehr traurig und fangen an zu weinen". Da er so lange schwieg, sah ich ihn an, ich kannte die Anzeichen, wenn er zornig wurde, und sie waren da. Also fragte ich: "Warum bist Du nun böse auf mich"? Er nahm mich in die Arme und sagte: "Auf Dich bin ich doch nicht böse, aber ich muss wissen, wer Dir einen solch verdammten Blödsinn erzählt". Er sah mich an und ich sagte: "Mutter, Mutter" und dann schwieg er noch länger. Dann fing er an mir zu erklären: "Du weisst doch, dass Du eine sehr gute Mutter hast. Du weisst auch, dass sie keine Lügnerin ist, also gibt es nur eines; irgend jemand hat Deiner Mutter das erzählt, sie hat es geglaubt und gedacht, sie müsse es Dir sagen". Ich studierte darüber nach und wollte wissen, wer denn wohl so gelogen hätte. "Das weiss ich auch nicht, meinte mein Vater. "Dann stimmt das also überhaupt nicht?" "Nein, erstens greifen sich alle Kinder hie und da zwischen die Beine um dort zu spielen, und zwar nicht nur Kinder. Krank wird man nicht davon und Hände kann man waschen, trotzdem sollte dies nicht zur Gewohnheit werden" Wir sassen noch eine Weile auf dem warmen Boden, dann meinte mein Vater: "Was heute hätte geschehen können, kannst Du noch nicht begreifen. Du bist noch zu klein, später einmal werden wir Dir alles erklären, es ist spät geworden nun gehen wir nach Hause. Mit Mutter werde ich über die Geschichte mit den Englein noch sprechen, Du brauchst also nicht mehr zu weinen". Er nahm mich bei der Hand, und wir gingen gemütlich auf unser Haus zu. "Werden wir noch heute Abend mit Mutter reden"? fragte ich. "Nicht wir, sondern ich werde das tun:" "Gut, dann werde ich eben nur zuhören". "Das wirst Du auch nicht, Du kannst etwas trinken und gehst dann zu Bett".

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Christoph Huter
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31 August 2024
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