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Sich integrieren, um zu partizipieren, oder partizipieren, um sich zu integrieren? Eine Geschichte.

Sich integrieren, um zu partizipieren, oder partizipieren, um sich zu integrieren? Eine Geschichte.

7 Mai 2008
Fiammetta Jahreiss

Die Einbürgerung als einziges Mittel zur vollen Teilhabe am Leben des Landes? Und als Krönung des Integrationsprozesses, wie auch immer wir diese Definition verstehen wollen? Oder ist nicht vielmehr die Partizipation der Ausgangspunkt, um Bürger*in zu werden, um sich mit der Realität, in der wir leben, identifizieren zu können? Sich ntegrieren, um zu partizipieren oder partizipieren, um sich zu integrieren? Die Antwort wird oft von kontroversen Ideologien und politischen Meinungen diktiert. Ein alles andere als wissenschaftlicher Versuch, eine Antwort auf der Grundlage eines völlig subjektiven Lebenswegs und politischen Engagements zu liefern.

Am 7. Mai 2008, anlässlich meiner Wahl zur Präsidentin des Zürcher Stadtparlaments, begann ich nach den üblichen Grussworten meine Eröffnungsrede mit den Worten: "Was heute anders ist, ist die Tatsache, dass eine Migrantin der ersten Generation, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die nicht hier aufgewachsen, sondern als Erwachsene nach Zürich gekommen ist, für ein Jahr das höchste politische Amt in der Stadt Zürich bekleidet. Erlauben Sie mir, stolz zu sein. Nicht stolz auf mich, sondern auf diese Stadt. Diese Wahl ist eine Demonstration der Offenheit und Multikulturalität unserer Stadt - mit besonderer Betonung des Wortes 'unserer', also auch meiner." Und in diesem Ton fuhr ich fort, zitierte Dante und sein Schicksal als Exilant, brachte meine Überzeugungen und meine transkulturelle Erfahrung zum Ausdruck. Eine Rede, die selbst bei Politikern anderer Couleur, die in Fragen der Migrationspolitik alles andere als aufgeschlossen sind, Anklang fand. Vielleicht, weil sie glaubwürdig war.

Aber wie habe ich dieses Ziel erreicht? Wie war die Reise von den Ufern des Arno zu jenen der Limmat? Eine beispielhafte Reise? Oder eine Ausnahme, die nur aufgrund besonders günstiger Bedingungen möglich war?

Der Ausgangspunkt: Die Einbürgerung

Hätte man mich 1976 gefragt, was ich über die Schweiz wüsste, so wären mir als erstes Berge, Banken, Uhren und Schokolade eingefallen. Etwas mehr lernte ich von meinen vielen Schweizer Schüler*innen an der Sprachschule in Florenz, wo ich begonnen hatte, Italienisch zu unterrichten, um mein Budget während des Studiums aufzubessern. Nach einem Monat konnte ich zumindest "äs burebüebli mani nid" oder "wen i nume wüsst wo ds vögellisi wär" im Chor mitsingen. Dann, zwischen der Erklärung der unpersönlichen Form und derjenigen der Bedindungssätze entwickelte sich eine italienisch-schweizerische Beziehung von ausgesprochen persönlicher Natur, die mich - nach einem Jahr der Treffen in Como, nächtlichen Fahrten auf unbequemen Sitzen, weil das Geld für den Schlafwagen fehlte, und familiären Auseinandersetzungen über die Telefonkosten - zu dem Entschluss brachte, zwei Monate Zweisamkeit in der Stadt zu versuchen, die ich heute ohne zu zögern "meine Stadt" nenne: Zürich.

Während dieser ersten zwei Monate waren meine Kontakte mit der lokalen Realität begrenzt: Mein Leben spielte sich hauptsächlich in der Einzimmerwohnung am Stadtrand ab, in einem Haus, die hauptsächlich von SWISSAIR-Angestellten und Migrant*innen bewohnt wurde, in der Zentralbibliothek, wo ich versuchte, meine Dissertation zu schreiben, und in der Mensa der ETH, wo wir uns zum Mittagessen trafen. Trotzdem beobachtete ich die Realität um mich herum jeden Tag mit Interesse. Ich zog die notwendigen Schlüsse: Ich war nicht bereit, noch einen Tag in diesem Land zu leben, ohne alle Rechte zu haben. Das damals geltende Bürgerrechtsgesetz war für mich günstig: Eine Ausländerin, die einen Schweizer heiratete, erhielt auf Antrag formlos das Schweizer Bürgerrecht. Die logische Lösung war also: Wir heiraten. Ich machte mich also daran, den Unglücksseeligen zu bearbeiten, wobei ich alle rhetorischen Mittel einsetzte, die mir zur Verfügung standen (die Tatsache, dass wir uns auf Italienisch, meiner Muttersprache, unterhielten, war natürlich für mich von Vorteil), und schließlich konnte ich meiner Familie und meinen Freunden die frohe Botschaft überbringen: mein Umzug in die Schweiz war definitiv, Grüss und Kuss. Ich habe also, wenn man so will, eine Art Scheinehe geschlossen: Ich habe geheiratet, um das Schweizer Bürgerrecht zu erhalten (offensichtlich gab es auch noch andere Komponenten, denn die Ehe hält nun schon seit 32 Jahren). Wie auch immer konnte ich zwei Monate nach der Hochzeit meinen Schweizer Pass abholen. Und einen Monat später konnte ich zum ersten Mal an einer Abstimmung teilnehmen. Der erste Schritt, zumindest auf dem Papier, war getan: Ich war formell eine vollwertige Schweizer Bürgerin geworden. Aber von hier bis zur aktiven Staatsbürgerschaft, bis zum Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist es ein langer und mit Hindernissen gespickter Weg.

Schweizerdeutsch: Ein Schritt auf dem Weg der Partizipation

Als ich in der Schweiz ankam, waren meine Deutschkenntnisse, gelinde gesagt, elementar. Ich hatte Kurse an der Universität, am Goethe-Institut in Florenz und einen Sommerkurs an der Universität Heidelberg besucht. Trotzdem war ich nicht in der Lage, einen korrekten Satz zu sprechen, ohne zu mich zu verhaspeln. Außerdem war das, was ich auf der Straße, in den Läden und an den endlosen Abenden mit Freunden hörte, eine für mich unverständliche und unartikulierte Sprache mit ungewohnten Klängen, die mich an die in den Philologieseminaren analysierten Texte der Nibelungensage erinnerten. Ein halbes Jahr lang schwieg ich (was ungewöhnlich und sehr schwierig für mich war) und versuchte, meine Deutschkenntnisse als Autodidaktin zu verbessern, vor allem durch die Lektüre von Krimis, deren Inhalt einigermaßen vorhersehbar war, und von Zeitungen, die sich mit Themen befassten, die mich interessierten. Ich begann, Hochdeutsch zu sprechen, aber das war nicht von Dauern. Meine natürliche und unbewusste Neigung, meine Gesprächspartner*innen zu imitieren, führte dazu, dass ich in kürzester Zeit nur noch Schweizerdeutsch sprach. Ein Schritt vorwärts also auf dem Weg zur aktiven Teilnahme. Aber das Ziel war noch lange nicht erreicht.

Partizipation und lokale Vereine: Eine wesentliche Herausforderung

Die Mitgliedschaft in lokalen Vereinen kann sicherlich den Kontakt mit der Realität des Landes, in dem man lebt, erleichtern: aber es wäre gefährlich, sie als Automatismus zu betrachten.

Ich habe diese Realität erlebt: Ich bin nicht aus Berechnung dorthin gekommen, sondern durch Zufall. Und diese Teilnahme hat mir die Türen zur aktiven Politik geöffnet. Aber gehen wir der Reihe nach. Der grösste Kulturschock war vielleicht, als ich feststellte - wir sprechen hier von vor über 30 Jahren -, dass es in der Schweiz keine Institutionen wie Kinderkrippen, Kindertagesstätten usw. gab und dass man davon ausging, dass eine Mutter mit ihren Kindern zu Hause blieb. Für mich, eine böse Überraschung. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der schon meine Urgroßmütter aus der Not heraus berufstätig waren. So griff ich auf die Lösung eines "alternativen" Kindergarten, wo die aktive Mitarbeit der Eltern Pflicht war. Eine Chindsgi-Mutter, die im Elternverein des Quartiers - einem starken und kämpferischen Verein - aktiv war, fragte mich, ob ich nicht daran interessiert sei, dem Vorstand beizutreten. Zuerst zögerte ich: Würde ich akzeptiert werden? Und kannte ich die Sprache gut genug, um mitreden zu können? Auf der Generalversammlung entschied ich mich spontan, kandidierte und wurde ohne Probleme gewählt. Zwei Jahre später war ich Präsidentin.

Vom Verein zur Quartierpolitik

Dank dem Elternverein konnte ich ein Netzwerk von Kontakten im Quartier aufbauen und in thematischen Arbeitsgruppen - Schule, Lebensqualität, Verkehr - auf lokaler und städtischer Ebene mitwirken. Ausserdem wurde ich als Vertreterin des Elternvereins in die Kreisschulpflege gewählt. Durch meine Tätigkeit in der Schulpflege, die ich 11 Jahre lang ausübte, lernte ich die Mentalität und Handlungsweise meiner Kolleg*innen und der Schulbehörden aus erster Hand kennen. Und konnte mich einsetzen, die manchmal schwierige Verständigung - sei es aus Gründen der Sprache, der Mentalität oder mangelnder Kenntnisse - zwischen Eingewandertenfamilien und der örtlichen Schule zu erleichtern.

Nach der vierjährigen Legislaturperiode und im Hinblick auf die nächsten Wahlen musste ich mich entscheiden: Die Situation hatte sich geändert, und es war nicht mehr möglich, als Unabhängige in der Schulpflege zu bleiben. Die Entscheidung für eine Partei fiel mir leicht: Ich trat in die Partei ein, die ich immer gewählt hatte und die die Werte vertrat, an die ich zutiefst glaube, vor allem Solidarität und soziale Gerechtigkeit, eine Partei, die groß genug war, um auch abweichende Meinungen zuzulassen. Einige Monate später wurde ich Mitglied des Vorstands meiner Sektion und im folgenden Jahr stand ich auf der Liste für die kantonalen Parlamentswahlen. Parallel zu meiner politischen Tätigkeit im Quartier engagierte ich mich in Fragen, die speziell mit der Einwanderung zu tun hatten. Im schulischen Bereich war ich sieben Jahre lang Präsidentin der Kommission für die Integration von Migrantenkindern. Und ich war Gründungsmitglied der "SP Migration", einer Arbeitsgruppe innerhalb der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich, die die Teilnahme von Migrantinnen und Migranten am politischen Leben erleichtern und unterstützen sollte. Als ich 1998 gefragt wurde, ob ich nicht für den Gemeinderat kandidieren wolle, habe ich unter der Bedingung zugesagt, dass ich einen Platz in der Mitte der Liste bekomme und offen erklären kann, dass ich den 30 % der Zürcher Bevölkerung ohne Schweizer Pass, die sich nicht äussern können, eine politische Stimme geben will. Diese Aussage von mir brachte mir heftige Kritik von einflussreichen Parteikollegen ein, die behaupteten, dass ich auf dieser Grundlage niemals gewählt werden würde. Stattdessen überholte ich zur Überraschung aller, vor allem aber zu meiner eigenen, den Kandidaten vor mir auf der Liste, und da wir einen Sitz gewonnen hatten, wurde ich über Nacht Gemeinderätin.

Eine Eingebürgerte als “Schweizermacherin”

Diese Wahl traf mich unvorbereitet, aber ich nahm die Herausforderung an und schwor mir, den Worten auch Taten folgen zu lassen. So meldete ich mein Interesse an der Bürgerrechtskommission an und wurde Mitglied. Ich muss zugeben, dass die ersten Tage in der Kommission sehr schwierig waren. Die endlosen und absurden Diskussionen über das Privatleben der Gesuchsteller*innen, das Fehlen wirklich objektiver Kriterien innerhalb der Kommission, die herrschende Willkür und die letztlich dem Zufall überlassenen Entscheidungen über das Schicksal von Menschen, die von der Anwesenheit der verschiedenen Parteien an der entscheidenden Sitzung des Gemeinderats abhängen, haben mich zutiefst erschüttert. Im Laufe der ersten vier Jahre habe ich daher die Überzeugung entwickelt, dass klare und transparente Kriterien notwendig sind, um das Thema anzugehen. Als ich dann zu Beginn der nächsten Legislaturperiode durch eine Verkettung günstiger Umstände die Möglichkeit hatte, den Vorsitz der Kommission zu übernehmen, habe ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Als erste Handlung als Präsidentin wollte ich die Praxis unserer Arbeit definieren. Nur klare Kriterien und Positionen auf der Grundlage der aktuellen Gesetzgebung garantieren transparente Entscheidungen. Natürlich bedeutete dies auch, dass wir, wenn auch sehr selten, einige Anträge ablehnen mussten, was für unsere Fraktion nicht immer leicht zu akzeptieren war. Andererseits ist die Arbeit des Ausschusses seither effizient und reibungslos verlaufen, und die Zahl der in jeder Sitzung bearbeiteten Dossiers ist von durchschnittlich vier auf vierzig angestiegen. Um dies zu erreichen, konnte ich natürlich auf die Mitarbeit aller Kommissionsmitglieder zählen, auch auf jene der SVP, die die Methode unterstützten, auch wenn sie inhaltlich nicht einverstanden waren. Und dies war nur möglich, weil ein Klima des gegenseitigen Respekts herrschte.

Ans Ziel gekommen: Die Wahl zur Gemeinderatspräsidentin

Das Amt der Stadtparlamentspräsidentin ist laut Protokoll das höchste politische Amt in der Zürcher Stadtpolitik. Als Präsidentin der Volksvertretung ist es höher als dasjenige des Stadtpräsidenten, der den Stadtrat präsidiert. Natürlich steht das alles nur auf dem Papier, es ist ein repräsentatives Amt. Aber trotzdem ein wichtiges Amt. Als ich gefragt wurde, ob ich für das Amt der Gemeinderatspräsidentin kandidieren wolle, habe ich ohne zu zögern zugesagt, da ich mir des starken symbolischen Wertes dieser Wahl bewusst war. Ein Jahr lang habe ich, in Florenz geboren und in Ravenna und Florenz aufgewachsen, mit 100% italienischem Blut, mit einer Familie aus ganz Italien, von der Lombardei bis Sizilien, die Stadt Zürich und ihr Parlament bei Festen, Veranstaltungen, offiziellen Besuchen vertreten. Ich tat dies mit Freude und Überzeugung, fühlte mich zu 100% als Zürcherin, vergass aber nie meine Wurzeln. So waren bei der Präsidiumsfeier der Präsident des Stadtparlaments von Florenz und der Vizekonsul als Vertreter des italienischen Konsulats anwesend. Sogar die Einladungskarte spiegelte diese doppelte Identität mit einer Abbildung des Rathauses in Zürich und der Ponte Vecchio in Florenz wider.

Ein exemplarischer Weg oder eine Ausnahme?

Dies ist meine persönliche Geschichte. Aber um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: ein exemplarischer Weg oder eine Ausnahme, die nur aufgrund besonders günstiger Bedingungen möglich war? Betrachten wir die einzelnen Faktoren.

Meine Ausbildung: Als besonders günstig kann die Tatsache angesehen werden, dass ich eine Hochschulabschluss hatte, und zwar in einem Bereich - dem der Fremdsprachen - der auch hier von Nutzen sein kann. So hatte ich von Anfang an die Möglichkeit, Italienisch zu unterrichten. Meine Fähigkeit, Sprachen rasch zu lernen, war sicherlich auch hilfreich, ebenso wie meine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und unbezahlte Tätigkeiten auszuüben.

Aber wie viele Eingewanderte mit einem Mittel- oder Hochschulabschluss sind hier gezwungen, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, weil ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden? Bildung an sich ist keine Garantie. Und abgesehen davon: Ich kenne Dutzende von Zuwanderern oder Zuwanderinnen, die die obligatorische Schule oder eine Berufsausbildung besucht haben, die fliessend Deutsch oder Dialekt sprechen und sich ehrenamtlich in Vereinen oder Quartier engagieren.

Trotz diesen positiven Voraussetzungen muss ich mich also fragen: Wäre meine Geschichte, der Weg, den ich zurückgelegt habe, derselbe gewesen, wenn ich nicht von Anfang an die Möglichkeit gehabt hätte, mich zu beteiligen, wenn ich nicht das Wahlrecht gehabt hätte? Wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt hätte, meine Meinung zu äußern und zu Entscheidungen beizutragen, die mein Leben betreffen? Meine Antwort, basierend auf 32 Jahren Erfahrung, lautet nein. Mein Interesse an der Realität meiner Wahlheimat und mein Wunsch, einen Beitrag an die Gesellschaft, in der ich lebe, zu leisten, entstanden, als ich zum ersten Mal die Abstimmungsunterlagen in die Hand bekam und mit dem politischen System der Schweiz konfrontiert wurde.

Ohne diese Konfrontation ist die Schwelle, auch für diejenigen, die an sich an einer aktiven Beteiligung interessiert wären, sehr viel höher. Was ist das für eine Demokratie, eine Demokratie, die nur für andere gilt? Nehmen wir mein Beispiel: Trotz meines Engagements im Elternverein hätte ich nicht Mitglied der Schulpflege werden können, wenn ich kein aktives und passives Wahlrecht gehabt hätte.

Das klassische Argument der Gegner*innen des Ausländerstimmrechts ist, dass jeder, der abstimmen will, dies mit dem Schweizer Bürgerrecht tun kann. Dieselben Politiker*innen stehen aber an vorderster Front, wenn es darum geht, die erleichterte Einbürgerung oder die Vereinfachung des Einbürgerungsverfahrens nach objektiven Kriterien abzulehnen. Ein Widerspruch? Nur scheinbar. Die Diskussion um das Ausländerstimmrecht und die erleichterte Einbürgerung wird in der Deutschschweiz von der Überzeugung dominiert, dass es ein Privileg ist, in der Schweiz zu sein, und dass die Eingewanderten für dieses Privileg dankbar sein sollten. Dankbar wofür? Dafür, dass sie unsere Alten und Kranken pflegen, unseren Müll abholen, unsere Straßen und Häuser bauen können? Dafür, dass sie Steuern und Abgaben zahlen können? Diese paternalistische und arrogante Sicht auf die Migrationspolitik geht an der Realität vorbei. Diejenigen, die ihr Land, ihre Familie, ihre gewohnten Orte verlassen haben, haben Mut und Initiative bewiesen und tragen seit Jahren zur Entwicklung unserer Wirtschaft und zum Funktionieren des öffentlichen Dienstes bei. Und was ist mit den jungen Menschen der zweiten und dritten Generation, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, aber auf dem Papier immer noch "Ausländer" sind und kein Stimmrecht haben?

Im Laufe der Jahre habe ich bei italienischen Vereinen oft als Referentin zu lokalpolitischen Themen gesprochen. Migrantenvereine spielen eine nicht unbedeutende Rolle im Integrationsprozess. Sie unterstützen Neuankömmlinge, informieren sie über wichtige Themen der lokalen Realität und helfen gleichzeitig, die Verbindung zur Herkunftskultur aufrechtzuerhalten. Die organisierte Zuwanderung ist ein wichtiges Informationsmedium. Bei diesen Treffen wurde ich oft mit der Frustration der Zuwanderer über die mangelnde Anerkennung ihres Beitrags zur Schweizer Gesellschaft konfrontiert. Warum dürfen wir nach so vielen Jahren noch nicht wählen? Warum bietet man mir nach dreißig Jahren Arbeit nicht kostenlos das Bürgerrecht an? Warum nimmt man mich nicht ernst?

Die Antwort ist schwierig. Für jemanden, der wie ich das politische System der Schweiz sehr schätzt und den Wert der direkten Demokratie anerkennt, ist es unmöglich zu erklären, dass gerade diese Demokratie eine unvollkommene Demokratie ist. Zum ersten Mal fehlen mir die Worte. Giorgio Gaber sang: "Freiheit ist nicht auf einem Baum zu stehen, sie ist nicht einmal der Flug einer Fliege, Freiheit ist kein freier Raum, Freiheit ist Teilhabe" Ich glaube daran. Und ich werde mich weiterhin für die Demokratie für alle einsetzen.

Ich, Fiammetta Jahreiss-Montagnani wurde in Florenz, Italien, geboren, kam 1978 im Alter von 25 Jahren "der Liebe wegen" in die Schweiz und leitete von 2001 bis 2016 und 2017 - 2018 das Zürcher Ausbildungszentrum der Stiftung ECAP, einer Institution für Erwachsenenbildung, die sich auf die Bildung von Migranten konzentriert. Von 1998 bis 2011 war ich Mitglied des Zürcher Stadtparlaments, das ich 2008-2009 präsidierte. Von 2008 bis 2019 war ich Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Migration, acht Jahre davon als Vizepräsidentin.

Diesen Beitrag habe ich 2010 für “Terra cognita”, der Zeitschrift der Eidgenössischen Kommission für Migration, verfasst.

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1 Dezember 2023
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