13. Zum Abschied von Ida Herger - Roos (24.Juni 1925 - 2. April 2019)
13. Zum Abschied von Ida Herger - Roos (24.Juni 1925 - 2. April 2019)
Zum Abschied von Ida Herger
Als unsere Mutter, Ida Roos,1925 als sechstes von neun Kindern geboren wurde, konnte niemand sich vorstellen, dass sie 90 Jahre später, als alte Frau, vor einem schiefertafelgrossen Plättchen sitzen würde, eine Art Bildschirm, auf den man Jasskarten herzaubern kann, die sich zum Spiel aufreihen, Karten, die sie ausspielen und mit ihrem Sohn in München und der Tochter in Zürich einen richtigen Jass klopfen kann. Die Welt unserer I-Pads und Tablets und Computer, überhaupt unsere Zeit, waren damals in den kühnsten Träumen für niemanden denkbar.
Ida wurde in eine ganz andere Welt geboren: in eine sehr arme Bergbauernfamilie, oben in der Schwesternegg, ein abgelegener Berghof, keine Strasse, keine Elektrizität, Wärme kam vom Feuer, Licht vom Petrol, die Betten mussten von den Kindern geteilt werden, zu dritt lagen sie jeweils wie Sardinen neben einander. Und als die kleine Ida neun Jahre alt war, starb ihr Vater, ein plötzlicher Herzinfarkt, nun waren die neun Kinder mit ihrer Mutter auf dem Bergheimetli alleine. Später kam der Tod erneut auf die Schwesternegg, Ida war zwölf, und holte sich eines von ihren Schwestern, das Liseli, es starb an Kinderlähmung.
Unser Muetti wurde mit sieben Jahren eingeschult, oben auf dem Breitebnet, eine halbe Stunde ging es steil bergauf bis zum kleinen Schulhäuschen. Sie kam in eine Gesamtschule mit 7 Klassen, war die einzige Erstklässlerin, auch in der zweiten Klasse blieb sie allein, so dass man sie kurzerhand zur Überspringerin erklärte und der Dritten dazu schlug.
Schon während der Schulzeit trat sie ihre erste Stelle an: man schickte sie zu Verwandten als Kindermädchen in die Hinterschür, das war in Dorfnähe, nun ging sie für eineinhalb Jahre noch dort zur Schule.
1939, als ringsum die Schweiz der Krieg losbrach, wurde sie aus der Schule entlassen. Sie war nun 14 und ging in die Fremde, machte drei Monate die Haushaltschule, dann ein Haushaltlehrjahr am Sempachersee. Ida erzählte als alte Frau, wie sehr der flache weite See sie anfänglich ängstigte. Dann kamen die Jahre des Dienens, wie sie selbst immer sagte, als Hausmädchen, als Magd. Das hiess, um halb sechs aufstehen, und spät in den Abend noch putzen , flicken und rüsten, manchmal sei sie so müde gewesen, so erzählte sie mir, dass sie sich frühmorgens, nach dem Betten machen, für ein paar Minuten in der Kammer des Knechtes zum Schlafen hinlegte, auf den Boden, bevor sie dann zum Frühstück ging.
Die Jahre in der Fremde gefielen ihr, trotz der Strenge der Arbeit. Das Schaffe war sie sich ja gewohnt. Aber 1945 , mit zwanzig, wurde sie zu einem Schritt gezwungen, den sie mit vielen Bauerntöchtern von damals geteilt hat: sie musste zurück nach Hause,
zurück auf den Hof in der Schwesteregg. Denn ihre Mutter, schon lange Witwe, verheiratete sich wieder, zog zu ihrem neuen Mann auf einen anderen Hof, und ihre Söhne, Idas Brüder, blieben ohne Frauen auf der Schwesternegg zurück. Unser Mueti blieb also eine Dienstmagd, allerdings mit weniger oder gar keinem Lohn. Es gibt einen berührender Brief, der sechzig Jahre später auf wundersame Weise in ihre Hände zurückgefunden hat, darin schreibt sie ihrer alten Dienstfamilie voller Bedauern, wie sehr sie alle vermisst, wie gerne sie wieder zurück kommen möchte:
"Aber wenn ich könnte, würde ich gleich wieder fort gehen." Und dann schreibt sie sich selber einen Trost in den Brief: "Es geht alles vorüber, und es geht alles vorbei. Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai."
Ida war eine sehr schöne junge Frau. Und so liess auch die Liebi nicht lange auf sich warten. Ihre erste Liebe hatte sie glücklich in der Fremde gefunden. Doch als sie auf den elterlichen Hof zurück musste, und ihr Bewerber mit dem Fahrrad auf dem beschwerlichen Kiltgang war, zu ihr auf den Berg, hat die männliche Dorfjungmännerschaft dies nicht goutiert und den fremden Frauenstehler kurzerhand mit Stein und Tannzapfen vertrieben. Und dann verliebte sich ein junger Bauernsohn in sie, Paul Herger vom Lingetli, seine Familie war ein paar Jahre zuvor aus den Länderen (Schächental und Nidwalden) nach Romoos eingewandert. Auch Ida gefiel der Mann. Und so heirateten die beiden im Januar 1948 und begannen ihr gemeinsames Leben auf einem kleinen Hof in der Vogelsmatt. Aber dann packten sie die Chance, das Weierhüsli in Romoos zu kaufen, die kleine Sägerei mit Wohnhaus im Rohbau, eine Konkursmasse, günstig zu haben. Sie hatten praktisch kein Geld, Ida brachte ein Säckli Fünfliiber in die Ehe ein, Vater Paul auch nicht viel mehr, mit viel Optimismus und noch mehr Schulden haben die beiden das Abenteuer Kleinstunternehmen mit Grossfamilie gestartet: eine noch nicht elektrifizierte Sägerei mit Wasserturbinen, und jedes Jahr ein Kind, sieben Mal, eines verstarb in der Folge eines Arztfehlers kurz nach der Geburt. Für den Alltag hiess das für alle: karg und sparsam leben, arbeiten, mithelfen, zupacken, wo immer dies möglich war.
Der Unfall unseres Vaters, Silvesternach 1961, der fast 40m freie Fall aus der Seilbahn zur Schwesternegg, machte das Leben für uns und unser Mueti nicht einfacher. Nun hiess es, die grosse Familie mit einem halb invaliden Mann an der Seite durchzubringen.
Doch unsere Eltern verloren ein wichtiges Ziel nie aus den Augen: sie wollten, dass aus ihren Kindern trotz Armut etwas werden sollte. Wir sollten alle in die Sekundarschule gehen und eine Lehre machen. Das ist ihnen und uns denn auch gelungen. Und so sind wir denn alle früh ausgeflogen, um unsere eigenen Wege in der weiten Welt zu suchen.
Mit dem Auszug der Kinder vom Weierhüsli öffneten sich für Mueti erstmals neue Lebensmöglichkeiten, nebst dem Haushalt und der Mithilfe in der kleinen Sägerei.
Autofahren war das eine, das hatte sie schon früh gelernt, als eine der ersten Frauen im Dorf, weil ihr Mann, unser Vater, ja aus gesundheitlichen Gründen nicht fahren durfte. 1965 kam sie stolz von der Autoprüfung zurück, nicht einmal Vati hatte sie davon erzählt, und ihre erste Fahrt mit dem eigenen Auto führte nach Doppleschwand an die Kilbi. Später dann wurde sie so etwas wie die Taxifahrerin fürs Dorf. Wer einen Arzt- oder Coiffeurtermin hatte, und selbst nicht mobil war, rief erst einmal s'Ida an. Und ihr schnittiger Fahrstil sitzt einer meiner Freundinnen bis heute in den Knochen, unvergesslich, wie sie damals die Kurven zum Bramboden hochfuhr.
Jahrelang hat sie sich im Samariterverein engagiert, u.a. schrieb sie als Aktuarin die Protokolle. Und als Treueprämie reihte sich Silberlöffelchen um Löffelchen in der Schublade mit dem Sonntagsbesteck. Heute rühre ich damit den Kaffee in meinem Büro. Und schliesslich hat sie über viele Jahre mit der Pro Senectute Ferienlager für Ältere im Tessin organisiert. Dabei ist sie richtig aufgeblüht, das hat sie unglaublich gerne gemacht.
In dieser Zeit kam eine grosse Veränderung in ihr Leben: 1977 kehrte Sohn Paul nach Lehr- und Wanderjahren ins elterliche Haus zurück und übernahm die serbelnde Sägerei. Ins Weierhüsli kam nun neue Kraft und neues Leben. Der Sohn brachte technische und unternehmerische Innovation in Haus und Betrieb, und eine tüchtige Frau zog ins Haus, die Rita, die ihn vielseitig tatkräftig unterstützte, als Partnerin, als Lehrerin mit eigenem Einkommen. Und bald auch sprangen vier Grosskinder in Idas Stube herum. Aus Mutter war definitiv ein Grosi geworden. In diesen Jahren hat Ida hautnah miterlebt, wie aus der kleinen Sägerei ein höchst effizienter Kleinbetriebe geworden ist, der sich unter harter Konkurrenz zu behaupten wusste. Und sie sah ihre Enkel grösser und schliesslich so erwachsen werden, dass wieder ein Generationenwechsel anstand, vor sieben Jahren, und einer von ihnen, Christian, das Sägewerk von Sohn Paul übernahm und es noch immer erfolgreich weiter führt.
Aber damals, in den Jahren mit den neuen kleinen Freiheiten und den geliebten Ferien in Caslano, wurde Muetti erneut von einem schweren Schlag eingeholt: ein Schlaganfall machte 1993 aus unserem Vater einen pflegebedürftigen Mann. Ida musste ihre liebgewordenen Aktivitäten wieder aufgeben und sich um ihn kümmern. Er brauchte Pflege rund um die Uhr, die sie leistete, bis sie zusammenbrach. Vati kam dann ins Heim und ist im Jahr 2000 gestorben ist.
Nur fünf Jahre später stand der Tod ein weiteres Mal vor der Tür: der älteste Sohn Ambros kam bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Das hat sie sehr traurig gemacht.
Es waren drückende, schwere Jahre, damals, Mueti wurde zeitweise auch depressiv. Dann aber hat sie sich wieder aufgerappelt, hat Trost gesucht im Beten, in ihrem Glauben. Und wurde gestützt von der grossen Familie um sich herum: auf 16 war die Schar der Grosskinder angewachsen, später kamen noch 6 Urgrosskinder dazu. Stolz liess sie sich auf einem Viergenerationenfoto ablichten, das Bild erschien dann im Entlibucher Anzeiger. Und für alle ihre Lieben hat sie immer gestrickt und gestrickt - eine Kunst, die sie trotz schon etwas steifen Fingern bis an ihr Lebensende beherrschte. Und man durfte wünschen, und schon begannen die Nadeln zu klappern.
Ebenfalls ein schwieriger Einschnitt in ihr Leben war der Moment, als sie ihre Autofahrfreiheit aufgeben musste, ein wichtiges Stück Autonomie als verwitwete Frau im abgelegenen Dorf. Damals war sie bereits 87. Der Ersatz dafür, ein I-Pad als neue Verbindung zur Aussenwelt, hat unerwartet gut funktioniert. Denn nie vorher hatte Ida irgendetwas mit Computern zu tun gehabt. Aber sie hat es gepackt, neugierig und motiviert, und hat den Umgang damit noch gelernt, zuerst um auf dem Tablet, sie begann zu jassen, für sich alleine, dann übers Internet mit mir und Franz. Und auch das Schreiben und Versenden von Mails bekam sie noch in den Griff, begann munter zu meilen, wie sie immer schrieb.
Dabei gab es ein Schwierigkeiten, die es zu meistern galt. Z.B. mit dem automatischen Korrekturprogramm. In ihrem ersten Mail an mich schrieb sie: Mir gehts gut, danke für das Mail. Gruss Mami. Auf mein überraschtes Rückfragen, wieso sie denn nun plötzlich ein Mami geworden sei, wo wir ihr doch immer Mueti sagen, erklärte sie, das sei aus der Not, denn der Computer schreibe immer Multi, wenn sie mit Mueti unterschreiben wolle. Wenigstens von den Multis konnten wir sie problemlos retten, und auch sonst haben wir noch ein paar Mal herzlich gelacht, wenn das Word-Programm ihr üble Streiche spielte.
Gab es technische Probleme, Schwierigkeiten, beim Einstieg ins Internet oder bei der Computergrafik, wurde die Verständigung schwieriger. Es fehlten schlicht die Worte:
"Hoffe, dass das Mail ankommt, es ist da so etwas dazwischen.", hat sie mir geschrieben, oder am Telefon verzweifelt erklärt: " Wir können heute nicht zusammen jassen. Da im Heim, beim Computer, hend si irgendwie sit geschter de Aschluss irgendwie nid dobe .... Das chönnt si erscht em Mäntig ufeschicke."
Mit 88 Jahren also fing Ida wieder an zu schreiben. Oder besser, sie fing überhaupt erst so richtig mit Schreiben an. Mit den Mails bot sich eine neue Möglichkeit der Verbindung zu ihrer grossen Familie, auch mit den Fotos, die die Kinder und Enkel aus aller Welt ihr zuschickten und die sich manchmal nicht finden lassen wollten. Gerne hat sie uns
Sinnsprüche geschickt. Ja, und dabei wurde sie sogar auch ein bisschen Philosophin: "Die Fastenzeit ist ein Frühjahrsputz für die Seele."
"Alles Grosse wächst durch die Gelassenheit."
Mit neunzig Jahren stand ein weiterer schwieriger Schritt in ihrem Leben an: der Wechsel aus ihrem Weierhüsli, wo sie 66 Jahre gelebt hat, ins Altersheim Entlebuch. Sie hat dies zu einem Zeitpunkt getan, wo sie sich am neuen Ort noch wach und aktiv einleben konnte. Und das ist ihr geglückt:
Sie hat sich im Heim in Entlebuch wohlgefühlt. Hat vo "dehei" gesprochen, wenn sie die Bodematt meinte. Das hat zum einen damit zu tun, dass sie von vielen liebevoll umsorgt wurde. Und dass sie von ihrer Familie oft besucht wurde. Aber auch damit, dass sie sich noch einmal ein Plätzchen in ihrer Welt erobern konnte. So begann sie auch für das Heim zu stricken und zu nähen, hat sich ihr Jassgrüppli gesucht und gefunden. Alles lief gut, bis vor einem Jahr, als sie bei einem Sturz den Hüftknochen brach. Nun wollten die Schmerzen nicht mehr aufhören, und das Gehen ging nicht mehr, sie sass plötzlich im Rollstuhl. Da ist sie in eine tiefe Depression gestürzt. Aber schliesslich hat sie mit kompetenter Hilfe, mit einem neuen Medikamentenmix und mit liebevoller Betreuung auch da wieder herausgefunden. Der Rollstuhl wurde mit dem Rollator ersetzt, sie ging wieder spazieren, griff zu Nadel und Wolle, und strickte eine letzte grosse Decke. Ja, es ging ihr die letzten Monate wieder richtig gut. Und sie war bis am Schluss wach und klar im Kopf, hat regelmässig den Sidi Barani gejasst, hat im Entlebucher Anzeiger die Berichte ihres Enkels Paul aus der fernen Mongolei gelesen, und voller Stolz in einem Mäppli aufbewahrt.
Vor zehn Tagen hat eine schwere Lungenentzündung sie buchstäblich überfallen: das war dann zu viel für ihr altes, müdes Herz. Ida war aber auch bereit zum Sterben. Und so hat sie sich friedlich auf ihre letzte Reise gemacht. Und ist dann am Dienstag-morgen ruhig verstorben. Ohne grosse Schmerzen. So wie sie es sich gewünscht hat.
Als sie damals mit Mailen anfing, hat sie Sinnsprüche aus ihrer Sammlung in einem alten Heft hervorgesucht und an uns, ihre Lieben geschickt. Einen davon möchte ich zum Abschluss dieser Feier vorlesen:
Unter Eichen und Linden. wirst du ein Blümelein finden. Das ganz leise zu dir spricht. Vergiss Deine liebes Mueti nicht.
Das machen wir, liebes Muetti. Danke.
6.4. 2019, Lisbeth Herger
Langsamverkehr, zum Beispiel mit der Polybahn in Zürich
Langsamverkehr ist in aller Munde...Momente der Geruhsamkeit in der Hektik des Alltags, beispielsweise bei der Fahrt mit der Standseilbahn vom Central zur Polyterrasse. UnsereGeschichte lädt ein zum Zeigen von Dokumenten zu solchen Momenten, beispielsweise in der Galerie https://unseregeschichte.ch/galleries/langsamverkehr.