Frauenleben am Napf. Ida Herger-Roos
1) Die Schwesteregg:
Die Schwesteregg ist ein abgelegener Bergbauernhof im Napfgebiet. Sie liegt anderthalb Wegstunden vom Dorf Romoos entfernt, bis in die neunziger Jahre gab es keine Zufahrtsstrasse für Autos. Eine selbstgebaute Seilbahn über das Goldbachtobel verkürzte den Weg um eine knappe Stunde. Als Gondel nutzte man einen alten VW-Käfer.
Auf diesem Hof wurde meine Mutter Ida 1925 geboren und sie erlebte hier ihre Kindheit und Jugend.
2) Meine Grossmutter
Meine Grossmutter (1897 - 1990) Anna Häfliger wuchs auf dem benachbarten, noch abgelegeneren Hof «Enzischwand» auf. Sie war das ältestes von 14 Kindern. Als sie 19 war, wurde ihre Mutter vom Blitz erschlagen. Sie musste von ihrer Dienstmädchenstelle nach Hause kommen, um die Haushaltführung zu übernehmen und ihre kleinen Geschwister gross zu ziehen. Mit einundzwanzig Jahren heiratet sie den Bauern Albert Roos und zog zu ihm auf die Schwesteregg.
3) Grossmutter Anna mit Kinderschar
Grossmutter Anna wurde Mutter von neun Kinder, sechs Mädchen und drei Buben. Ihr Mann Albert starb 1934 einen frühen Herztod, Witwe Anna musste ihre Kinder in bitterer Armut grossziehen. Ihr jüngstes Kind Liseli starb fünfjährig an Kinderlähmung. Meine Mutter Ida wurde als sechstes Kind in diese Familie hineingeboren. Man sieht sie hier auf dem Familienfoto als dritte von rechts.
4) Familie Roos als Erwachsene
Als Grossmutter Annas Kinder erwachsen geworden waren, entschied sie sich zu einer zweiten Heirat. Sie verliess 1945 die Schwesternegg, um den Witwer Josef Birrer zu heiraten. Dieser hatte seine Frau im Kindsbett verloren und stand mit seinen fünf kleinen Kindern nun alleine da. Für Grossmutter war die Heirat durchaus attraktiv. Denn Josef Birrer hatte etwas Geld, wohnte nah beim Dorf und sein Haus und Hof waren schon elektrifiziert. In der Schwesteregg dagegen wirtschaftete man noch mit Holz und Petrol.
Meine Mutter steht hinten links neben ihren Brüdern Josef und Albert und ihrer ältesten Schwester Anna.
5) Ida Roos kehrt auf die Schwesteregg zurück
So musste die junge Ida als zwanzigjährige – wie dereinst ihre Mutter - ihre Dienstelle aufgeben, um im frauenlosen Bergbauernhof ihren zwei Brüdern Josef und Albert den Haushalt zu besorgen. Lohn gab es nun keinen mehr.
6) Ida Roos als schöne junge Frau
Meine Mutter war eine Schönheit im Dorf. Ihr Verehrer aus der früheren Dienstmädchenzeit warb weiter um sie. Jedoch wurde er von den jungen Romooser Burschen bei seinem Kiltgang mit Tannzapfen und Steinen vertrieben, bis er nicht mehr kam.
7) Paul und Ida am Hochzeitstag
Der junge Bauerssohn Paul Herger war 1940 mit seinen Eltern und einigen Geschwistern aus Nidwalden nach Romoos gezogen. Er hatte insgesamt acht Geschwister. In Romoos gehörte die Familie lange Jahre zu den Zugezogenen, den "Nichteinheimischen". Dennoch gewann der junge Mann die schöne Ida für sich und führte sie 1948 an den Traualtar.
8) Die Sägerei Weierhüsli als neue Heimat
Das Paar erstand 1949 in Romoos eine kleine Sägerei, der Vorgänger des ärmlichen Betriebs war Konkurs gegangen. Das Wohnhaus stand noch im Rohbau, die Sägerei wurde mit Wasserkraft betrieben. Mein Vater Paul musste das Sägehandwerk auf eigene Faust lernen. Das kleine Sägewerk war keine Goldgrube.
9) Ida Herger mit ihren sechs Kindern
Die junge Familie wuchs stetig, jedes Jahr kam ein weiteres Kind. Vier Söhne, zwei Töchter. Ich kam als Letzte. Der Alltag war hart und karg.
10) Das grosse Unglück
In der Silvesternacht 1961 geschah ein grosses Unglück. Nach dem Silvesterjass auf der Schwesteregg stieg Vater Paul auf der Heimfahrt vorzeitig aus dem VW-Käfer der Seilbahn. Er überlebte den 34- Meter-Sturz, blieb aber teilinvalid. Die untere Aufnahme mit dem VW-Käfer ist etwa zwei Jahre später entstanden. Sie zeigt meinen Bruder Heiri in der Kabine (Kopie eines Teils des Artikels aus der Zeitung "Blick" vom Januar 1962).
11) Die rettende Esche stirbt fast gleichzeitig wie Paul Herger
38 Jahre nach seinem Sturz aus der Seilbahn starb Paul Herger. Das war im Jahr 2000, er wurde 77 Jahre alt. In den Stunden nach seinem Tod fiel die Esche, die ihm dereinst das Leben gerettet hatte, um. Den Sturm Lothar hatte der Baum überstanden, nun, wenige Monate später lag er entwurzelt am Boden. Meine Mutter Ida besucht den gefallen Baum am Vortag der Beerdigung ihres Mannes.
12) Mutter wird Taxifahrerin
Vater Paul durfte wegen seinem verletzten Gesichtsfeld nicht Autofahren. Das war für meine Mutter eine Chance der Emanzipation. Als eine der ersten Frauen im Dorf setzte sie sich ans Steuer, chauffierte ihren Mann und machte Taxidienste für das halbe Dorf.
13) Ida zeigt Freundinnen ihre Schwesteregg und die Seilbahn
Meine Mutter lernte später - bei ihrem Pro Senectute-Einsatz - neue Freundinnen kennen. Sie führte diese durch Romoos, in ihre weitläufige Heimat mit den vielen Graten, Eggen und Chrächen. Und zeigte ihnen den schwebenden Käfer, der inzwischen berühmt geworden war.
Tolle Geschichte! Zum grossen Unfall: Mein Vater erlebte ein ähnliches Schicksal: Als Vertreter von Mobil Oil beriet er einen Seilbahnbetreiber am Walensee über Schmiermittel. Zwei Menschen ungesichert auf dem Dach einer fahrenden Seilbahnkabine! (wo war die Suva in den fünfziger Jahren?) Bei der Überfahrt eines Masts verlor mein Vater das Gleichgewicht und stürzte in die darunterliegenden Bäume. Er erholte sich damals von den schweren Schulterverletzungen – diese kam erst im hohem Alter wieder zum Tragen als Behinderung.
Der "Blick" hat am 6. Januar diese Geschichte in den Mittelpunkt eines Artikels gestellt, s. blick.ch/gesellschaft/ihr-vate...